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Fachgespräch "Gender und Lebenserwartung"

Kurzbericht zum Fachgespräch „Frauen leben länger? Männer leben (also) kurz???“ Aus der Forschung zu Gender und Lebenserwartung

Montag, 09. Mai 2005 von 13.30 –17.30 Uhr im Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin

Heute gilt in der Politik und in der Wirtschaft die Aussage als eindeutig und richtig, dass "die Männer" eine geringere Lebenserwartung als "die Frauen" haben. Wo liegen die Ursachen dafür, dass Männer eher sterben als Frauen? Dieses Fachgespräch hat einen differenzierten Blick auf die aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Thema geworfen. Die vorgestellten Ergebnisse stützen die Annahme, dass es sich bei der geringeren durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern um ein gesellschaftlich, strukturell bedingtes Phänomen handelt und biologische Ursachen höchstens eine untergeordnete Rolle spielen.
Dadurch geraten die Unterschiede in Lebensverhältnissen von Männern und ihre möglichen Auswirkungen auf die Lebenserwartung in den Fokus. Denn wenn es einzelne Männergruppen gibt, deren durchschnittliche Lebenserwartung der der Frauen entspricht, stellt sich die Frage, wie sich deren Lebenslagen und Lebensstile von denen der Männer unterscheiden. Inwiefern kann dies auch Ausgangspunkt sein für die kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Männlichkeitskonzepten und Geschlechterverhältnissen?


Prof. Dr. Susanne Baer leitete in das Fachgespräch ein und verortete es im Rahmen der Arbeit des GenderKompetenzZentrums: Dessen Aufgabe sei es, differenzierte Erkenntnisse über die Komplexität von gender in Sachgebiete einzubringen, die vorher nicht "gegendert" waren oder auf Stereotypen und populärwissenschaftliches Wissen zurückgegriffen hatten. In diesem Fachgespräch würden einige der wenigen gut abgesicherten Befunde zu gender und Lebenserwartung zusammengetragen und in einen Dialog gebracht.

Jochen Geppert vom GenderKompetenzZentrum moderierte das Podium und konkretisierte in seinem Eingangsstatement das Vorhaben der Veranstaltung: Der Blick sei in diesem Fall eher auf Männer gerichtet, allerdings differenziert und ohne die oft anzutreffende Opferrhetorik.

Dr. Cornelia Lange, Bevölkerungswissenschaftlerin am Robert-Koch-Institut, trug Ergebnisse der demographischen Forschung zur geschlechtsspezifischen Lebenserwartung und Mortalität vor. In der Lebenserwartung "bei Geburt" liegen die Frauen statistisch 6 Jahre über den Männern, die Differenz in der "Ferneren Lebenserwartung" mit 65 beträgt jedoch nur noch 3,5 Jahre. Dieser Befund macht deutlich, dass die Sterbeziffern in verschiedenen Altersgruppen genauer betrachtet werden müssen. Dabei zeigt sich, dass Männer in der Altersgruppe von 15-20 Jahren eine doppelt und von 20-25 sogar eine dreifach höhere Sterbeziffer aufweisen als Frauen. Im Mittleren Lebensalter (30-64) liegt die Mortalität bei den Männern ebenfalls um den Faktor 2 höher, bei den Äußeren Todesursachen sogar um 3. Zum Alter hin gleichen sich die Werte an, bis in der Altersgruppe über 90 Jahre die Sterbeziffer der Frauen leicht höher ist. Ein Blick auf die Todesursachen beleuchtet die Unterschiede genauer: Die wichtigsten Ursachen für die Übersterblichkeit der Männer sind
  • äußere Ursachen (also Unfälle),
  • Herz-Kreislauf-Krankheiten,
  • bösartige Neubildungen (Krebs),
  • Krankheiten des Atmungssystems (z.B. chronische Krankheiten der unteren Atemwege)
  • Krankheiten des Verdauungssystems (z.B. alkoholische Leberkrankheit).
Allerdings sei nicht zu übersehen, dass auch bei den Frauen die Mortalität bei einzelnen Krankheiten steige, z.B. bei Lungenkrebs.

Prof. Dr. Marc Luy, Bevölkerungswissenschaftler an der Universität Rostock, beschäftigte sich ebenfalls aus demographischer Sicht mit den Ursachen der Geschlechterdifferenz in der Lebenserwartung. Dafür stellte er zum einen die geografische Verbreitung und historische Entwicklung dieser Differenz dar, zum anderen präsentierte er die Ergebnisse der "Klosterstudie", einer vergleichenden "mikro-demographischen" Untersuchung zur Lebenserwartung in Mönchs- und Nonnenklöstern.
In der geografischen Verteilung zeigte sich, dass fast überall Männer kürzer leben als Frauen, Ausnahme sind einige Länder hauptsächlich in Afrika und Asien, in denen eine geringe Lebenserwartung herrscht und die Kinder- und Müttersterblichkeit hoch ist. Allgemein ist zu beobachten: Je höher das Lebenserwartungsniveau ist, desto höher ist die Differenz zwischen den Geschlechtern.
Der historische Blick auf Deutschland zeigt teilweise einen ähnlichen Zusammenhang mit dem Lebenserwartungsniveau: Während Mitte des 19. Jhd. die Lebenserwartung gleich hoch war (und vorher vermutlich für Frauen niedriger aufgrund der Müttersterblichkeit, es bestehen dazu keine amtlichen Daten), bestand um 1900 eine Differenz von 3 Jahren. Bis 1950 stieg dann die Lebenserwartung von Frauen und Männern parallel (Nebenbei: Die Kriegssterbefälle tauchen in der deutschen amtlichen Statistik nicht auf). Bis 1980 öffnete sich die Schere auf fast 7 Jahre, um sich seitdem wieder leicht zu schließen auf 6 Jahre im Jahr 2000.
Die dominante Todesursache wandelte sich seit dem 19. Jhd. von Infektionskrankheiten (Tbc) über Verkehrsunfälle hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Neubildungen (Krebs).
Schon diese empirischen Daten im internationalen und historischen Vergleich zeigen eine solche Varianz, dass biologische orientierte Erklärungen allein nicht plausibel erscheinen. Um die Ursachen der Differenz genauer zu erforschen, verglich Luy die Lebenserwartung von Mönchen und Nonnen miteinander und mit der Allgemeinbevölkerung: Sollten biologische, vom Menschen nicht beeinflussbare Ursachen zugrundeliegen, dürfte es keinen Unterschied geben zwischen Kloster- und Allgemeinbevölkerung; sollten das Verhalten und die Umwelt - also beeinflussbare Faktoren - ursächlich sein, sollten Nonnen und Mönche eine ähnliche Lebenserwartung haben. Insgesamt fanden die Daten von 11600 Personen aus 11 bayerischen Klöstern mit nahezu identisch geregeltem Tagesablauf Eingang in die Studie.
Es zeigt sich, dass die Vergrößerung der Lebenserwartungsdifferenz seit 1950 in der Klosterbevölkerung nicht stattfand. Nonnen und Frauen der Allgemeinbevölkerung leben annähernd gleich lang, dicht gefolgt von den Mönchen. Die Gruppe, die deutlich nach unten ausschert, sind die Männer der Allgemeinbevölkerung. In der Entwicklung der Sterblichkeitsreduktion bleiben die Männer der Allgemeinbevölkerung deutlich hinter dem Niveau der Frauen, Nonnen und Mönche zurück. Die Ursache für die Differenz muss im Verhalten und der Umwelt dieser Gruppe liegen, da den Daten der Mönche zufolge die Biologie nur etwa 1-2 Jahre der Differenz erklären kann. Wie weitere Forschungsrichtung muss also lauten: Welche Gruppen der Männer sterben früher und bewirken somit den statistischen Unterschied?

Dr. Paola Di Giulio, Bevölkerungswissenschaftlerin am Max Planck Institute for Demographic Research in Rostock untersuchte, wie die Lebenserwartungsdifferenz von Gesundheitsverhalten, Lebensstilen und Lebensarragements beeinflusst wird. Zu erklären ist, wie es zum Sterblichkeitsüberhang der Männer kommt. Dafür soll untersucht werden, ob die Differenz in bestimmten Subgruppen weniger deutlich/hoch ausfällt. Da die stärkste Differenz in der Altersgruppe von 55-80 auftaucht, wurde aus dieser Gruppe eine Subgruppe ausgewählt: Diejenige Kohorte, die bei der ersten Befragung (Life-Expectancy-Survey LES) 1984/1986 zwischen 60 und 69 Jahren alt war und deren Überlebensstatus bei der Nachfolgestudie 1998 bekannt war (n=1353).
Anhand von 20 Items z.B. über Rauchgewohnheiten, Body-Mass-Index, Gesundheits- und Arbeitsverhalten wurden vier Lebensstilgruppen gebildet:
  • "Active Bon-Vivants": Arbeiten, Rauchen, sind häufig übergewichtig. Überwiegend Männer.
  • "Interventionists": Rauchen nicht, trinken nicht, ernähren sich gesund, haben keinen (Stress-)Job. Überwiegend Frauen.
  • "Nihilists": Betreiben keine Gesundheitsvorsorge und keinen Sport, sind korpulent. Eine kleinere Gruppe, die sich ungefähr paritätisch zusammengesetzt.
  • "Past workaholics": Hatten in der Vergangenheit einen Stress-Job. Eine kleine Gruppe.
Im Vergleich zwischen den Lebensstilen gemessen an den "Interventionists" haben die anderen Gruppen eine 2- bis 2,8-fach höhere Mortalität. Innerhalb aller Lebensstilgruppen leben die Frauen länger, wobei die Geschlechterdifferenz bei den "Interventionists" am geringsten ist.
Neben den Lebensstilen wurden auch die Lebensarrangements betrachtet: Wie wirkt sich ein Leben in einem Paar, allein oder in anderen Arrangements (mit weiteren Haushaltsmitgliedern, also z.B. Kindern) auf die Lebenserwartung aus? Es zeigte sich, dass in der Gruppe der "anderen" sowohl die Lebenserwartung am höchsten als auch die Geschlechterdifferenz am geringsten war. Es sei also erfolgversprechend, an den Lebensstilen und den Lebensarrangements anzusetzen, um die Lebenserwartung von Männern zu erhöhen.

Sebastian Schädler ist Praktiker aus der geschlechterbewussten Bildungsarbeit von Pat-Ex.e.V. und arbeitet als Kunstpädagoge an der Universität Bremen. In seinem kulturwissenschaftlichen Vortrag beleuchtete er die Rolle des "frühen Todes" als Teil bzw. "Erfüllung der Konstruktion männlicher Identität". Als Beispiele kontrastierte er das Bremer Wahrzeichen Roland mit dem Heiligen Sebastian. Während der Roland ein wehrhaftes, gepanzertes Bild mittelalterlicher hegemonialer Männlichkeit abgibt, stellt der Heilige Sebastian das Gegenbild des schutzlosen, nackten Mannes dar: Zwei Männlichkeitsbilder, die sich bei aller Gegensätzlichkeit beide über das Verhältnis zu Körperlichkeit und Tod definieren. Der Tod fungiert als Ernennung zum Mann. Nach einem kurzen Abriss der Theorien der Geschlechterverhältnisse von Biologismus über Gleichheits-Feminismus bis zu poststrukturalistischem Feminismus kritisierte er die aktuell tonangebende Perspektive der (Populär-)Wissenschaft, die Ursachen von gender in den Genen zu suchen: Eine Perspektive, die z.B. die Beobachtung von gleich vielen "superalten" Frauen und Männern auf Sardinien mit einem "genetischen Vorteil" der dortigen Männer zu erklären versucht, statt nach den dortigen Lebensbedingungen für beide Geschlechter zu fragen. Der poststrukturalistische Feminismus könne dabei helfen, wenn auch vielleicht nicht direkt konkrete Antworten, so aber die richtigen Fragen zu finden. So hilft er dabei zu verstehen, woher Resistenz gegenüber gleichstellungspolitischen Maßnahmen rühren kann: Geschlechtliche Identität erscheint dann als eine Ressource der eigenen Person, die hart erarbeitet wurde in einem langen Prozess von Sozialisation und Formation eigenen Körpers. Diese Ressource würden vielen um keinen Preis aufgeben wollen, auch wenn ein paar Jahre längeres Leben heraus springen würden.
Auf welche Weise und wie stark die geschlechtliche Identität in die Körperlichkeit von Männern eingeschrieben ist, zeigte Schädler anhand einiger Bildbeispiele. Eine Aufklärung über die Verkürzung der Lebenserwartung durch ein bestimmtes Verhältnis zum eigenen Körper sei nicht vielversprechend, um Männer zu verändern: Es sei nicht so, dass die männliche Rolle die Gesundheit gefährde, eher anders herum: die gefährdete Gesundheit stabilisiere die männliche Rolle. Deshalb sei es aussichtslos, bei gesünderem Verhalten nicht nur ein möglicherweise längeres Leben, sondern auch mehr Männlichkeit zu versprechen. Die Veränderung der Geschlechterverhältnisse sollte nicht das Ziel stabiler männlicher (und geschlechtlicher) Identität verfolgen.

Im Anschluss wurde nicht nur über diese Thesen kontrovers diskutiert.

JG

Literaturhinweis:

Jochen Geppert und Jutta Kühl haben zum Thema "Gender und Lebenserwartung" einen Sammelband u.a. mit ausführlichen Versionen der Vorträge dieses Fachgesprächs veröffentlicht. Es handelt sich dabei um den zweiten Band aus der Reihe „Gender kompetent. Beiträge aus dem GenderKompetenzZentrum“. Auf der Homepage des Kleine Verlags finden Sie weitere Informationen und das Inhaltsverzeichnis.




    erstellt von Administrator zuletzt verändert: 10.05.2012 09:25