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„Neue Zeiten für die Gleichstellung?

Zusammenfassung der Fachtagung des GenderKompetenzZentrums

an der Humboldt-Universität zu Berlin am 18.12.2007


„Zeit hat man, oder eben nicht” - ist das so einfach? Woher kommt es, dass sich die Zeitverwendung von Frauen und Männern in ihren vielfältigen Lebenslagen unterscheidet? Was bedeutet es, wenn sie mit ihrer Zeit zufrieden sind – oder eben nicht? Wie kann Gleichstellungspolitik von dem aktuellen gesellschaftlichen
Leitbild aus zeitpolitischer Perspektive, das sich an den drei Zielen Sicherheit, Teilhabe und Wahlfreiheit orientiert, profitieren? Wie die Ressource Zeit mit gleichstellungspolitischen Fragen verknüpft und wie sie entsprechend politisch gestaltbar ist, wurde auf der Fachtagung des GenderKompetenzZentrums der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel „Neue Zeiten für die Gleichstellung? Zeitpolitik aus der Gender-Perspektive“ am 18.12.2007 diskutiert. Neben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung des Bundes, der
nachgeordneten Behörden, der Länder und Kommunen waren auch
Vertreterinnen der Politik sowie Berater_innen und Wissenschaftler_innen der Einladung gefolgt.

Das Ziel der Fachtagung war der fachliche Austausch darüber, welche Potenziale die Zeitpolitik für aktuelle Gleichstellungspolitik hat. Deshalb wurden aktuelle Forschungsergebnisse zu Zeitverwendung und Zeitbedürfnissen von Frauen und Männern in ihren vielfältigen Lebenslagen vorgestellt und konkrete zeitpolitische Instrumente diskutiert. Die sehr angeregten und vielfältigen Diskussionen auf der Tagung haben nicht nur die Aktualität, sondern auch die Anschlussfähigkeit des Themas „Zeitpolitik” für Gleichstellungspolitik deutlich gemacht. Im Ausblick wurden daher sowohl Herausforderungen für eine gleichstellungsorientierte Zeitpolitik als auch zeitpolitische Aspekte der Gleichstellung benannt.

Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M., Direktorin des GenderKompetenzZentrums, begrüßte die anwesenden Gäste und führte thematisch in die Fachtagung ein. Das GenderKompetenzZentrum unterstützt die Bundesverwaltung dabei, systematisch Gleichstellung als Querschnittsaufgabe umzusetzen und Gender-Kompetenz zu vermitteln. Baer verwies zunächst darauf, dass Erhebungen zur Zeitverwendung mittlerweile in den Mitgliedsländern der OECD zu den wichtigsten Basisstatistiken über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung zählen. In vielen Staaten sind sie Bestandteil der Programme der amtlichen Statistik. Werden diese Daten geschlechterdifferenziert erhoben (Gender-Daten), bieten sie eine wichtige Voraussetzung für die aktuelle Gestaltung von Gleichstellungspolitik. Auch in der bundesdeutschen Politik spielt
die Erhebung von Zeitverwendung seit einigen Jahren eine wichtige Rolle. So z.B. in der vom BMFSFJ in Auftrag gegebenen Zeitbudget-Studie „Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland, 2001/2002” des Statistischen Bundesamtes und im Gender Datenreport des DJI. Aufgegriffen werden Daten zur Zeitverwendung z.B. auch im 7. Familienbericht
der Bundesregierung
: Darin wird eine „Zeitpolitik für Familien“ gefordert, die in der "Rush Hour" des Lebens das Nebeneinander entzerrt und die Entscheidung für Familie leichter macht. Es wächst derzeit insgesamt der Anspruch, den Lebenslauf individuell zu gestalten. Neuerdings wird damit die Perspektive des Lebensverlaufs bedeutsamer. Dies stellt neue Anforderungen an politische, gesellschaftliche und soziale Unterstützungsstrukturen, die z.B. das Lebenslange Lernen tatsächlich ermöglichen.

Die Beiträge der Tagung zeigten empirische Erkenntnisse und Perspektiven auf zwei Ebenen auf: Im ersten Teil der Tagung wurden von Sandra Smykalla, Sebastian Scheele und Prof. Dr. Eckart Hildebrandt und Dr. Astrid Libuda-Köster Einblicke in den Zusammenhang von Zeitpolitik, Zeitverwendung und den Lebenslagen von Frauen und Männern dargestellt. Im zweiten Teil der Tagung präsentierten Uta Kletzing und Karsten Kassner Ergebnisse aus aktuellen Studien, die sich mit der Flexibilisierung von Arbeit und der Rolle von Männern und Vätern bei der Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf befassen.

Sebastian Scheele und Sandra Smykalla stellten in ihrem einführenden
Vortrag „Zeit als Ressource für Gleichstellung“ die Bedeutung von Zeitpolitik für Gleichstellung heraus. Als gesellschaftspolitische Hintergrundfolie der Beschäftigung mit Zeitpolitik wurde die gleichzeitige „Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Privatleben“ genannt, die sich durch die Flexibilisierung von Erwerbsarbeit, die Pluralisierung von Lebensläufen und den demografischen Wandel entwickelt. Wie diese Entwicklungen politisch gesteuert werden können, verdeutlichte die Vorstellung des Politik-Mix aus Zeit, Infrastruktur und Geld. Unter Zuhilfenahme der vier Gender-Dimensionen wurde aufgezeigt, welch starke Rolle Gender für Zeitpolitik spielt. Insofern sollte sie dazu beitragen, die Ziele von Gleichstellung – Echte Wahlfreiheit, Anerkennung, Gleiche Teilhabe – zu verwirklichen. Zwei Beispiele zeigten, wie Zeitpolitik bereits in gleichstellungspolitische Strategien integriert worden ist: zum einen der Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006-2010 und zum anderen die Nationalen Aktionspläne Gleichstellung der Niederlanden. Sie machten deutlich, dass diese Integration machbar sowie sinnvoll ist.

Prof. Dr. Ulrich Mückenberger konnte seinen Vortrag leider wegen Krankheit nicht halten. Seine Präsentation „Die geschlechterpolitische Perspektive auf Zeitpolitik“, in der er zum einen die Perspektive und Herkunft der Zeitpolitik vorstellt und zum anderen deren Relevanz für Geschlechterpolitik skizzierte, können Sie dennoch hier herunterladen.

Prof. Dr. Eckart Hildebrandt, Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin, erläuterte in seinem Vortrag „Lebensverlauf und betriebliche Zeitkonten“ zunächst die gegenwärtige Lage der „Erosion der Normalerwerbsarbeit“ und die Ausdifferenzierung von Arbeitsverhältnissen. Um die Zeitverwendung im Lebenlauf angemessen zu begreifen und politisch steuern zu können, plädierte Hildebrandt mit dem Konzept der „Mischarbeit“ für einen erweiterten Arbeitsbegriff und stellte das „Zeitpolitische Manifest“ vor, das sich insbesondere an Unternehmen und Verwaltung richtet und mit dem die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik eine Diskussion um eine andere Organisation von Arbeit anstoßen will. Die neue Vielfalt und Diskontinuität im Lebensverlauf verweise auf neue variante Lebensläufe, was eine „Lebenslaufpolitik“ und „lebenszyklusorientierte Beschäftigungspolitik“ erfordere. Als mögliche Instrumente stellte Hildebrandt verschiedene Formen von Zeitkonten vor und stellte dabei Interessenskonstellationen zwischen Betrieb, Beschäftigten und Gesellschaft heraus. Als größte aktuelle Herausforderung für Politik und Wissenschaft sah er an, dass Strukturen geschaffen werden, die die Ungewissheit des Lebensverlaufs (Wie lässt sich Sicherheit herstellen?) und die individuelle Aufgabe der Lebensplanung (Was sind neue Referenzpunkte im Leben?) adressieren - hier sei
sowohl eine zeitpolitisch informierte Forschung gefragt, die neues Wissen über die Wirkmöglichkeiten der Arbeitszeitflexibilisierung bereitstellt als auch eine Politik notwendig, die vielfältige „Herstellungsprozesse“ von vielfältigen Lebensläufen und Lebensentwürfen fördert.

Dr. Astrid Libuda Köster, IPSE – Institut für Projektevaluation und sozialwissenschaftliche Datenerhebung, stellte in ihrem Vortrag „Zeitverwendung und Geschlecht – Empirische Erkenntnisse“ Ergebnisse aus der Zeitbudgetstudie des Statistischen Bundesamtes vor, in der mithilfe eines detaillierten Tagebuchs die Zeitverwendung repräsentativ erhoben wurde. Sie fokussierte insbesondere Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Zeitverwendung von Frauen und Männern, jedoch auch differenziert nach Haushaltstypen, Einkommen und Ostoder Westdeutschland. Ein Ergebnis war, dass auch bei gleicher Lebenssituationen Frauen und Männern ihre Zeit unterschiedlich für die Bereiche Arbeit, Freizeit und Soziales (z.B. Haushaltsführung und Kinderbetreuung) einsetzen. In der multivariaten Analyse zeigte sich, welche Faktoren besonderen Einfluss auf die Zeitverwendung haben: So verbringen Frauen mehr Zeiten mit Sozialtätigkeiten im Westen, nicht in Kernstädten, und je älter sie sind. Bemerkenswerterweise erhöht die Paarerziehung von Kindern die Zeit, die Männer für die Erwerbsarbeit verbringen, während sie für Frauen mehr Zeit für den Sozialbereich bedeutet. Libuda-Köster schloss aus der Zeitverwendung auf verschiedene „Zeitpräferenzen“ und stellte hierbei eine gleichhohe Zufriedenheit von Frauen und Männern fest. Angesichts unterschiedlicher struktureller Bedingungen und Milieu-Differenzen wurde dieses Ergebnis im Anschluss kritisch diskutiert. Auch wurde ein Forschungsbedarf an begleitenden (Langzeit)Studien deutlich, die z.B. die Übergänge nach der Elternzeit abbilden können.

Am Nachmittag stellte Uta Kletzing, EAF Berlin, in ihrem Vortrag „Flexible Arbeitsmodelle für Führungskräfte am Beispiel der Deutschen
Rentenversicherung Bund”
Ergebnisse eines Modellprojektes der EAF vor, das sich zur Aufgabe gemacht hat, den männlich geprägten „Mythos Vollzeit“ für Führungskräfte zu hinterfragen. Andockend an die Verwaltungsmodernisierung, in der Führung ohnehin reformiert wird, wurde in einer Bundesbehörde eine kostenneutrale räumliche und zeitliche Flexibilisierung von Arbeit für Führungskräfte durch eine ergebnis- und wirkungsorientierte Steuerung geprobt. Insbesondere war es das Ziel des Modellprojekts, Machbarkeit, Rahmenbedinungen und Nutzen zu prüfen. Das Ergebnis ist ein „bedingtes Ja”: Als Erfolgsfaktoren stellten sich besonders ein genügendes Maß an Präsenz sowie die Planbarkeit von An- und Abwesenheit (für beide Parteien) heraus. Fast alle Teilnehmenden konnten jedenfalls ihre Work-Life-Balance verbessern.

Karsten Kassner beleuchtete in seinem Vortrag „Zeit für den Rollenwandel von Männern” den Zusammenhang von Gender und Zeitpolitik aus der Perspektive von Männern. Er referierte Ergebnisse der Zeitverwendung und Zeitzufriedenheit von Männern sowie besonders von Vätern. So spiele der „Familienernährer” sowohl als Identität wie auch als gesellschaftliche Normalitätsvorstellung weiterhin eine große Rolle und präge die Rahmenbedingung von privater Arbeitsteilung und „Reproduktionsvergessenheit” der beruflichen Arbeitskulturen. Gleichzeitig herrsche eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit der einseitigen Erwerbsorientierung und dem damit einhergehenden Arbeitszeitumfang. Um Lösungsansätze zu ermitteln, sei Forschung bei denjenigen „Pionieren” und Paarkonstellationen hilfreich, bei denen die Zeitverwendung zufriedenstellend gelingt. Am Beispiel der Hindernisse zur Nutzung der Elternzeit aus der Sicht von Männern zeigte Kassner, dass Zeitpolitik für Männer und für einen Wandel von Geschlechterverhältnissen in verschiedenen Bereichen ansetzen müsse. Indem sie jedoch niedrigschwellig an Bedarfen ansetze, könne sie den Gewinn von Gleichstellungspolitik gut verdeutlichen.

In der abschließenden Diskussion wurde angeregt die Frage debattiert, welche politischen und fachlichen Herausforderungen sich aus den Erkenntnissen der Zeitpolitik ergeben. Lassen sich die konkreten Beispiele nur in der Verwaltung umsetzen, oder sind sie auf die Wirtschaft übertragbar? Aus zeitpolitischer Perspektive wurde dazu aufgerufen, ein gesellschaftliches Leitbild zu entwickeln, das sich an drei Ziele orientiert: Sicherheit, Teilhabe und Wahlfreiheit. Zeitpolitische Konsequenzen und Instrumente sind z.B. eine
wissenschaftsbasierte Debatte um das Grundeinkommen, die Integration verschiedener sozialer Sicherungs-Maßnahmen in eine „Arbeits-Lebens-Versicherung”, individuelle Zeitoptionen oder eine Arbeitszeitreduktion bespielsweise im Sinne der „Halbtagsgesellschaft” (Prof. Dr. Carsten Stahmer). Allerdings sei keines der Instrumente allein und in allen Kontexten geeignet; zudem stehe die Analyse ihrer Gender-Effekten noch ganz am Anfang, so dass sie aus gleichstellungspolitischer Perspektive diskutiert werden sollten. Deutlich wurde, dass Zeitpolitik ein großes Potenzial für Gleichstellung hat, weil zahlreiche Studien unterstreichen, dass viele Frauen und Männern mit ihrer aktuellen Zeitverwendung nicht zufrieden sind, sie jedoch bei der Umsetzung an den Rahmenbedingungen scheitern. Als minimale Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Zielvorstellung könnte also gelten, die bereits existierenden Zeitbedürfnisse von Frauen und Männern zu verwirklichen.

 

 

Sie können die Zusammenfassung dieser Fachtagung auch als druckfreundliche PDF-Datei herunterladen.
erstellt von pdimitrova zuletzt verändert: 10.05.2012 09:23