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„Ich sehe was, was du auch siehst.“ Stereotypisieren, reifizieren und intersektionalisieren in der Geschlechterforschung - oder: Doing Intersectionality

Gender Lecture des GenderKompetenzZentrums mit Prof. Dr. Nina Degele, Universität Freiburg, am 26.05.2008 zum Schwerpunktthema „Geschlechterstereotype in Wissenschaft und Gesellschaft“ an der Humboldt-Universität zu Berlin

Intersektionalität – nur ein neues Modewort oder ein vielversprechender Impuls für die Forschung? Nina Degele stellt in ihrem Vortrag vor, welche Möglichkeiten eine intersektionale Forschungsperspektive bietet, um die Reproduktion eines stereotypen Alltagswissens in der Forschung zu vermeiden. Im ersten Teil des Vortrags legt Degele ihr Verständnis von Intersektionalität dar, das sie am Beispiel eines Forschungsprojektes zu Fußball und der Tabuisierung von Körperlichkeit im zweiten Teil verdeutlicht. Dabei geht sie im Besonderen auf die Wechselwirkungen der Kategorien Geschlecht und Sexualität ein.

Degele versteht Intersektionalitiät derzeit als „Buzzword“, also als ein Modewort, in der aktuellen wissenschaftlichen Forschung. Allerdings ist Intersektionalität jedoch mehr als ein Konjunkturthema: Es ist ein offenes, für viele Forschungsrichtungen anschlussfähiges Konzept. Es enthält das Potential, unterschiedliche Lebenslagen von Menschen in ihren vielfältigen Zugehörigkeiten zu erfassen und Ungleichheitsverhältnisse in ihrer Komplexität zu analysieren. Intersektionalität versteht Degele als eine „kontextspezifische und gegenstandsbezogene Analyse der Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender gesellschaftlicher Strukturen und Praktiken“. Der intersektionale Ansatz beinhaltet in Anlehnung an die Soziologinnen Cornelia Klinger und Gudrun Axeli-Knapp die drei Kernkategorien Gender, Race, Class und die Kategorie Körper. Degele geht davon aus, dass mehr Kategorien forschungspraktisch nicht zu gleichzeitig zu handhaben seien. Die Wechselwirkungen und die Verwobenheit der Kategorisierungen werden in einer „Mehrebenenanalyse“ auf drei Ebenen untersucht: der Struktur-, der Identitäts- und der Repräsentationsebene. Mit Strukturen sind hier Verteilungs- und Partizipationsverhältnisse gemeint, die Identitätsebene umfasst individuelle Selbstkonzepte und auf der Ebene der Repräsentationen werden Werte, Normen, mediale Diskurse und öffentliche Meinungen in den Blick genommen.

Am Beispiel eines laufenden Forschungsprojektes zum Fußball stellt Degele im zweiten Teil des Vortrages die Herausforderungen an ein intersektionales Forschungsdesign vor und diskutiert erste Ergebnisse. Die Forschungsfrage des Projektes lautet: Wie schlägt sich im Fußball eine wechselseitige Tabuisierung von Körperlichkeit in Bezug auf Geschlecht (Sexismus) und Sexualität (Homophobie) nieder? Ausgangspunkt der Forschung ist die Ebene der Identität; Untersuchungsgruppe sind diverse Fußballmannschaften (Schwulen-, Lesben- oder Frauen- oder Männermannschaften); zur Erhebung wurde mit der Methode der Gruppendiskussion gearbeitet. Im Erhebungsprozess war es das selbstkritische Ziel der Forschenden, „Reifzierungen“ zu vermeiden, d.h. „Fehlannahmen“ zu verhindern, indem durch unreflektierte Forschungsfragen der Sachverhalt verzerrt wird. Die Gefahr der Reifizierung ist in der Geschlechterforschung schon 1992 von den Soziologinnen Regine Gildemeister und Angelika Wetterer als eine der bedeutendsten Fallstricke der qualitativen Forschung dargelegt worden – dieses Forschungsdilemma betrifft allerdings nicht nur die Erforschung von Gender, sondern ist auf jegliche empirische Forschung zu beziehen. Um also stereotype Setzungen seitens der Forschenden zu verhindern, wird in dem Projekt vor allem mit Bildern gearbeitet, anhand derer die Befragten ihre Meinungen und Assoziationen diskutieren. Ein zentrales Ergebnis der bisherigen Auswertung ist, dass es in der Wahrnehmung von Sexualität und Geschlecht im Fußball zu „Ausweichbewegungen“ kommt. Einerseits finden sich Prozesse der Kommerzialisierung von Sexualität und andererseits werden sexuelle oder geschlechtliche Beziehungen mit Alkohol und starken Emotionen erklärt.

In der anschließenden Diskussion wurde zunächst die Auswahl der Kernkategorien kritisch infrage gestellt: Welche Lebenslagen sind „kategorisierbar“? Wer entscheidet dies? Ist Körper tatsächlich eine eigenständige Kategorie oder nicht doch eher eine querliegende Ebene? Degele wies auf die bewusst gewählte Vorläufigkeit ihres intersektionalen Forschungsansatzes hin und sprach sich perspektivisch für eine flexible Erweiterung der Kategorien je nach Kontext aus. Des weiteren wurden die Grenzen der Methode der Bildbefragung kritisch diskutiert, da Bilder selbst Stereotype hervorrufen können. Nach Degele ist eine Stereotypisierung jedoch nie zu verhindern, entscheidend sei vielmehr, wie mit diesen Stereotypen umgegangen wird. Es sei interessant, sichtbar zu machen, inwiefern Bilder auch zur Brechung von Stereotypen eingesetzt werden können. In der angeregten, vielschichtigen Diskussion wurde deutlich, dass deutscher Fußball ein gutes Beispiel für einen geschlechtlich kodierten Bereich ist, der einen Markt produziert, der vor allem heterosexuellen Männern offen steht.

Zur Vortragenden:

Prof. Dr. Nina Degele ist Professorin für allgemeine Soziologie und Gender Studies am Institut für Soziologie der Universität Freiburg und seit 2002 Geschäftsführende Direktorin des selben Instituts. 1993 promovierte sie an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der LMU München zum Thema „Der überforderte Computer - Zur Soziologie menschlicher und künstlicher Intelligenz“ und habilitierte sich 1998 an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der LMU München; mit dem Thema „Informiertes Wissen. Eine Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft“. Sie forscht seitdem zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Themen wie Sich-schön-machen, Schmerz, Körper, Geschlecht und Modernisierung. Seit 2008 arbeitet sie an einem neuen Forschungsprojekt mit dem Titel „Wie wir uns die Liebe erzählen: zur Normalisierung eines einzigartiges Gefühls“.

Ausgewählte Publikationen:

  • Degele, Nina (2008): Einführung Gender/Queer Studies. München: Fink (UTB) Erster Band der Einführungsreihe „Basiswissen Soziologie“ (Hg. mit Christian Dries und Dominique Schirmer).

  • Degele, Nina (2008): Schöner altern. Altershandeln zwischen Verdrängung, Resonanzen und Solidaritäten. In: Sylvia Buchen/Maja Maier (Hg): Demografischer Wandel als Chance; Wiesbaden: VS (i.E.).

  • Degele, Nina/Gabriele Sobiech (2008): “Fit for life”? Soziale Positionierung durch sportive Praxen. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 69: S. 109-118

  • Degele, Nina (2007): Männlichkeit queeren. In: Robin Bauer, Josch Hoenes, Volker Woltersdorff (Hg): Männlichkeiten. Hamburg: MännerschwarmSkript; S. 29-42.

  • Degele, Nina (2006): Sportives Schmerznormalisieren. Zur Begegnung von Körper- und Sportsoziologie. In: Robert Gugutzer (Hg): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld: Transcript; S. 141-161.

  • Degele, Nina (2006): Queer forschen. Ein Beitrag zum Problem der Reifizierung in den Gender und Queer Studies. In: Petra Gieß-Stüber/Gabriele Sobiech (Hg.): Gleichheit und Differenz in Bewegung – Entwicklungen und Perspektiven der Geschlechterforschung in der Sportwissenschaft. Hamburg: Czwalina Verlag;S. 17-26.

  • Degele, Nina/Christian Dries (2005): Modernisierungstheorie. Eine Einführung. München: Fink (UTB).

  • Degele, Nina (2004):"Sich schön machen." Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln. Opladen: VS-Verlag.

erstellt von Administrator zuletzt verändert: 09.08.2010 17:18