Sie sind hier: Startseite Veranstaltungs-, Publikations- und News Archiv Gender Lectures Wenn Daten diskriminieren Vlatka Frketić: "Wir haben das Land aufgebaut. Wir sind die Herren in diesem Land", sagten die beiden Damen. Irrtum, Macht und Möglichkeiten diskursiver Ordnungen

Vlatka Frketić: "Wir haben das Land aufgebaut. Wir sind die Herren in diesem Land", sagten die beiden Damen. Irrtum, Macht und Möglichkeiten diskursiver Ordnungen

Doku der Gender Lecture vom 14.06.2010

Vlatka Frketićs Vortrag hat sich aus diskurstheoretischer Perspektive mit der Frage befasst, wie und unter welchen Umständen Klassifikationen zu sozialen Hierarchiebildungen und Ausschlüssen bzw. normativen Grenzziehungen beitragen. Vlatka  Frketić führte aus, dass es die kritische Diskursanalyse (nach Ruth Wodak, Wien) erlaube, auch die Wirkungsmacht dessen mit in Betracht zu ziehen, was gar nicht unbedingt explizit ausgesprochen sei, sondern als sozialer und historischer Kontext einer Aussage fungiere. Häufig sei es erst dieser Kontext, der die Bedeutung einer Aussage herstelle, verständlich mache oder im Unverständlichen belasse.
Frketić hat dies am Beispiel des Ausdrucks “Ausländer raus” erläutert, der sich, wie sie sagte, in Wien erschreckend häufig an Häuserwände gesprüht fände, ohne dass sich staatliche Instanzen oder Privatpersonen bemüßigt fühlten, ihn zu entfernen oder durch Kommentare umzuarbeiten. Was Frketić jedoch hervorhob, ist, dass sich Touristen, Touristinnen und Tourist_innen von diesem Ausspruch zumeist nicht adressiert sähen, während hingegen viele Menschen mit österreichischer StaatsbürgerInnenschaft dieses Graffiti sehr wohl als einen rassistischen Angriff auf sich erleben würden. Diese Mehrdeutigkeit ein und derselben Aussage/Artikulation verdanke sich der Kontextgebundenheit des Sprechens und Verstehens. Die Frage sei, ob diese Mehrdeutigkeit oder Uneindeutigkeit politisch interessant ist. Erlaubt sie es, in konkreten Situationen, in die sprachlich eingegriffen werden soll, z.B. um eine rassistische oder homophobe Situation zu unterbrechen, gezielt Bedeutungsverschiebungen ins Spiel zu bringen?
Frketić hat, um diese Frage zu durchdenken, den Begriff des klassifikatorischen Irrtums ins Spiel gebracht. Dieser Begriff sei ihr zunächst als eine analytische Kategorie in den Sinn gekommen, um nämlich Missverständnisse oder Unverständlichkeiten zu erklären, die dadurch entstehen, dass Kommunikationsteilnehmer_innen nicht den gleichen Verstehenshorizont teilen und in ihrem Sprechen auf unterschiedliche Diskurse zurückgreifen. Dies könne sich auch auf Nicht-Übereinstimmungen zwischen Meta-Diskursen und sozialer Praxis beziehen (landläufig unter Theorie/Praxis-Problemen verhandelt), beschränke sich aber nicht auf diese.
Ein Beispiel für das Auftreten klassifikatorischer Irrtümer seien die symbolisch gewaltvollen Missverständnisse zwischen den Teilen der Frauenbewegung, für die die Kategorien Mann und Frau denjenigen vorbehalten sind, die seit der Geburt eine entsprechende soziale Geschlechtersozialisation erfahren haben, und den Teilen der feministischen oder feministisch-queeren Bewegung, für die die Kategorien Mann und Frau auch Transmänner und Transfrauen beinhalten sowie von geschlechtlich vieldeutigen Positionen reklamiert werden können. Aus den unterschiedlichen Positionen heraus gewönnen Aussagen wie “nur für Frauen” oder “keine Männer erlaubt” sehr unterschiedliche Bedeutungen: Sie könnten Transfrauen inkludieren oder ausschließen bzw. Transmänner trotz Ausschluss von “Männern” zulassen, oder eben nicht.
Wenngleich derartige Sprach- und Raumpolitiken zweifellos in vielen Kontexten ein hohes Maß an Verletzungen produziert haben, wurde im Anschluss an Frketićs Vortrag ausführlich darüber debattiert, ob derartige “klassifikatorische Irrtümer” auch produktive Effekte haben können, ob sie womöglich gezielt politisch einzetzbar sind, aber auch, ob der Begriff “Irrtum” zutreffend sei. Hervorgehoben wurde, dass im Kampf gegen symbolische Gewalt viele mehr oder weniger produktive Debatten über Transphobie und Zwei-Geschlechter-Ordnung aufgeworfen worden seien und die “Irrtümer” zweifellos zu einer Politisierung beigetragen haben. Allerdings gehe der Begriff "Irrtum" durchaus mit einer gewissen Verharmlosung einher und er würde suggerieren, dass es auch nicht-irrtümliche, scheinbar eindeutige Sprach- und Kommunikationssituationen gebe. Gerade letzteres hatte Frketić jedoch durch die Kontextgebundenheit des Sprachgebrauchs zuvor in Frage gestellt.
Was die strategisch-politische Produktion von Irrtümern betrifft, gingen die Einschätzungen auseinander. Einigkeit herrschte jedoch bezüglich der Notwendigkeit, derartige Interventionen mit einer sorgfältigen Machtanalyse zu unterlegen, die auch eine Komplexität und Widersprüchlichtkeit von Unterdrückungs-, Dominanz- und Privilegienpositionen beinhalten sollte. Eine solche Analyse sei nicht immer einfach. Im genannten Beispiel sei es keineswegs leicht zu entscheiden, wie diejenigen die auf Grund von Gewalterfahrungen mit Männern “männerfreie Räume” wünschen zu ihrem Recht kommen können, ohne transphobe Ausgrenzungen zu leisten. Oder umgekehrt formuliert, inwiefern rechtfertigt das Vorherrschen transphober Gewalt, die in der feministischen Bewegung und der hegemonialen Öffentlichkeit weitaus weniger Wahrnehmung erfährt als “Gewalt gegen Frauen”, politisch auf den Gebrauch der Kategorien Mann und Frau zu verzichten?
Frketićs Vortrag zeichnete sich nicht nur dadurch aus, dass er die Problematik diskriminierender Daten aus einer sprach- und diskurstheoretischen Perspektive unterfütterte, er bestach vor allem auch dadurch, dass zahlreiche Beispiele die Wirkungsmacht von Sprache demonstrierten. Die Vortragssituation selbst wurde hierbei zur Bühne für experimentelle Umarbeitungen von Kommunikationssituationen und den damit verbunden Machtkonstellationen: Frketić hat ihren Vortrag durch zwei von ihr selbst verfasste Kurzgeschichten gerahmt, die ihr erlaubt haben, die Hermetik akademischen Sprechens herauszuforden und die affektiven und sozial komplexen Momente der Auseinandersetzung mit Rassismus, Heterosexismus, Transphobie und Heteronormativität in ihre theoretischen Überlegungen und die gemeinsame Diskussion einzubringen.
ae  

erstellt von noehring zuletzt verändert: 09.11.2010 15:23