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„Die Relevanz von Geschlechterstereotypen für Berufsentscheidungen“

Gender Lecture von PD Dr. Waltraud Cornelißen am 23.06.2008

 

Inwiefern sind Geschlechtersstereotypen noch immer relevant für die Berufsentscheidungen junger Menschen? Dieser Frage ging die Gender Lecture am 23.06.2008 auf den Grund.


Anhaltende Geschlechtersegmentation im Ausbildungssystem

PD Dr. Waltraud Cornelißen, die sich mit den Geschlechterverhältnissen in der Schule und den Berufsfindungsprozessen in der Jugendphase beschäftigt, ging von der Beobachtung aus, dass Mädchen zwar seit 20 - 30 Jahren bei den schulischen Leistungen erheblich aufholen, dass aber die Berufswahlmuster sich nicht nachhaltig verändert haben.
Noch immer wählen Mädchen häufiger Berufe im personengebundenen Pflegebereich, im Verkauf, der Hauswirtschaft, der Kosmetik oder in den einfacheren Bürotätigkeiten, wohingegen Jungen nach wie vor häufiger techniknahe Berufe wählen, also Berufe in Handwerk, Industrie, Metall oder Elektronik.
Um zwei extreme Beispiele aus den Ausbildungsberufen zu nennen: Im Gesundheitsbereich sind noch immer 80 Prozent der Auszubildenden weiblich, in der Kfz-Mechatronik sind gar über 99 Prozent der Auszubildenden männlich.
Die Kampagnen, die diverse Institutionen seit den 1980er Jahren durchgeführt haben, um das Berufswahlspektrum von Jungen und Mädchen zu erweitern, scheinen also nur begrenzten Erfolg gehabt zu haben.
Zwar gibt es einige neu entstandene Berufe, speziell im IT-Bereich, die anfangs wenig geschlechtlich konnotiert waren, doch diese haben sich mittlerweile als „Männerberufe” verfestigt. Noch immer scheint das Alltagsdenken die Berufsfelder in typische Frauen- bzw. Männerberufe zu unterteilen.
Dabei gehen diese Stereotypisierungen mit handfesten Nachteilen einher, wie PD Dr. Waltraud Cornelißen für die „klassischen Frauenberufe” ausführt:
Zum einen sind diese oft im Bereich der schulischen Ausbildungen angesiedelt, was bedeutet, dass keine Ausbildungsvergütung gezahlt wird, sondern im Gegenteil sogar Schulgeld anfällt.
Dr. Cornelißen bezieht sich im folgenden auf Ausbildungen im so genannten Dualen System, in dem die Ausbildung - mehr oder weniger ausreichend - vergütet wird. Doch selbst hier erhalten Mädchen und Frauen im Durchschnitt noch immer weniger Ausbildungsentgelt als Jungen und Männer (Auszubildende in den neuen Bundesländern erhalten insgesamt ebenfalls weniger Lohn als Auszubildende in den alten Bundesländern).
So gibt es alles in allem in den klassischen Frauendomänen oftmals weniger Lohn, weniger (Arbeitsplatz-)Sicherheit, weniger Aufstiegschancen und weniger gesellschaftliche Anerkennung, sowie häufig ungünstigere Arbeitsbedingungen als in anderen Bereichen. Zudem werden die Übergänge, also zum Beispiel eine der Ausbildung direkt angeschlossenen Übernahme in einen Betrieb, immer schwieriger.
Warum besteht diese Segmentation weiter – oder hinsichtlich dieser Nachteile: Warum tun Frauen sich das an?

Theoretische Ansätze zur Erklärung geschlechtsspezifischer Berufsentscheidungen

Zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Berufsentscheidungen gibt es verschiedene theoretische Ansätze:
Einen Pol stellen strukturorientierte Erklärungen dar. Eine entsprechende These ist, dass Frauen diese „Frauenberufe” eben deshalb wählen, weil sie keine andere Wahl haben. Getrennte, parallele Berufsbildungsstrukturen mit historisch gewollter geschlechtersegregierender Funktion haben die Geschlechterdualität in den Institutionen verankert und führen zu Ausschlüssen qua Geschlecht.
Der andere Pol sind die subjektorientierten Erklärungen, die die Handlungen der Beteiligten fokussieren. In diesem Sinne sind geschlechtsspezifische Berufsentscheidungen das Ergebnis eines Kosten-Nutzen-Kalküls im Rahmen der eigenen biografischen Geschlechterkonstruktion. Geschlechtlich konnotierte Berufe werden auch gewählt, weil sie gewissermaßen als eine Ressource für das eigene „doing gender” - die Darstellung als Frau oder Mann - fungieren können. Eine weitere These ist, dass Frauen die „Frauenberufe” auch aufgrund inhaltlicher Interessen und Erwartungen an Berufe wählen und dafür die ungünstigen Rahmenbedingungen in Kauf nehmen oder sich über diese nicht im Klaren sind.
Dr. Cornelißen unterstrich, dass es an der Zeit sei, diese Ansätze nicht länger polarisierend gegenüber zu stellen. Vielmehr seien die Mechanismen in den verschiedenen Segmenten unterschiedlich und beispielsweise Zwänge größer oder kleiner.
Zwischen den strukturtheoretischen und den subjektorientierten Erklärungsansätzen kann der Begriff der „Geschlechterstereotype” eine Brücke schlagen. Diese können nach PD Dr. Cornelißen definiert werden als Vorstellungen über Frauen und Männer, die gesellschaftlich kursieren und in verschiedenen Kontexten für Realität gehalten werden (Dölling 2005).

Daten zur geschlechterdifferenzierten Berufsorientierung: Vom Traumberuf zur Berufsentscheidung

Eine Möglichkeit, Berufsentscheidungen zu untersuchen, ist, nach den unterschiedlichen Berufswünschen in verschiedenen Altersklassen zu Fragen und, darauf aufbauend, ein „Traumberufs-Ranking” zu erstellen.
So belegt eine repräsentative Studie von 2002 (Walper/Schröder) für die 4. bis 7. Klasse frühe Rollenstereotype und zeigt auf, dass der Beruf der Ärztin bei Mädchen durchgehend an erster Stelle der Wunschberufe genannt wird, größtenteils gefolgt von weiteren medizinischen, pflegenden und pädagogischen Berufen, wohingegen Jungen Tätigkeiten bei Polizei bzw. Militär, im Fußball und im technischen Handwerk am häufigsten wählen.
Diese Befunde belegen, dass die Stereotype also nicht erst greifen, wenn die Restriktionen auf dem Arbeitsmarkt erkannt werden.
Andere Umfragen (Wenzel 2007) bei Schülerinnen zwischen 10 und bis über 15 Jahren verdeutlichen ebenfalls, so Dr. Cornelißen, dass die Berufswünsche der Schülerinnen sich innerhalb dieser Jugendphase zwar nicht verengt, aber eben auch nicht signifkant erweitert hätten. Obwohl der Berufswunsch der Designerin beziehungsweise Künstlerin es auf einen der vorderen Plätze schafft, ist der Hauptanteil der Wunschberufe aus dem medizinischen bzw. sozialen Bereich gewählt (Erzieherin, Ärztin, Lehrerin).
Diese Entwicklung hat nach Dr. Cornelißen unter Anderem auch etwas mit dem Fähigkeitsselbstkonzept der Mädchen zu tun. So zeigen andere Studien, dass die positive Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich bei Jungen mit zunehmendem Alter immer weiter steigt, die der Mädchen aber nicht.

Weitere spezifische Stereotypisierungen entstammen dem Aushandlungsprozess zwischen Arbeitgeber_innen und Bewerber_innen. So werden zum Beispiel Mädchen, die sich als Bäckerinnen oder Kfz-Mechatronikerinnen bewerben, im Auswahlverfahren nicht gleichermaßen berücksichtigt und auch die Erfolgsquote der Jungen, die sich als medizinischer Fachangestellter oder als Kaufmann für Bürokommunikation beweben, ist äußerst gering. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass nicht nur das Alltagswissen der Jungen und Mädchen einen großen Einfluss auf die Berufswahl hat, sondern dass auch in den Betrieben Geschlechterstereotype Einfluss haben.
Ein weiteres interessantes Beispiel sind in diesem Zusammenhang die oben erwähnten neu entstandenen IT-Berufe. Dort haben Bewerberinnen eine höhere Erfolgsquote als Bewerber. Möglicherweise wird dieses durch die Branche bewusst gesteuert, um einen höheren Frauenanteil zu erreichen, oder dieses Phänomen entsteht auf Grund eines Selektionseffekts, in dem sich Frauen erst mit außergewöhnlichen Qualifikationen bewerben.
In den verschiedenen IT-Berufen herrschen extrem unterschiedliche Geschlechterverteilungen. Gerade hier wird deutlich, dass auch die Berufsbezeichnungen als solche eine große Rolle bei der Berufswahl spielen. So finden sich im Ausbildungsberuf Elektroniker_in für Informations- und Telekommunikationstechnik lediglich 1,2 Prozent beziehungsweise bei den Informationselektroniker_innen 1,5 Prozent Frauen, wohingegen in den Ausbildungsberufen der IT-Systemkaufleute 23,7 Prozent bzw. Informatikkaufleute ein Frauenanteil von 18,2 Prozent zu finden ist (Statistisches Bundesamt 2006).
Dies könnte darauf hindeuten, dass Mädchen häufiger Berufe wählen, deren eigentlichen Berufsbezeichnungen direkt auf eine verkäuferische Tätigkeit hinweisen, als zum Beispiel auf eine technische.
Dass diese Berufsbezeichnungen dabei nicht die tatsächlichen Tätigkeiten abbilden, sondern stereotyp eher einzelne Aspekte hervorheben, wird offenkundig, wenn man an das Beispiel der pflegerischen Berufe denkt: Dort ist neben sozialer Kompetenz ebenso ein hohes technisches Geschick vonnöten, da unter anderem äußerst sensibles, lebenserhaltendes technisches Gerät bedient werden muss.
An dieser Stelle können gute Informationen gegensteuern und die Bilder der Ausbildungsberufe (Berufsimages) richtig stellen, beispielsweise in der Berufsberatung und deren Materialien.
Eine entsprechende Studie (Ostendorf 2005) legt dar, dass auch die Berufsberatung und Berufsbeschreibungen der Arbeitsämter einen Einfluss auf die Berufswahl junger Menschen haben. Allerdings wurde, wie Ostendorf zeigt, dieser Einfluss fatalerweise nicht genutzt, um Mädchen in für sie aussichtsreiche “Männerberufe” zu vermitteln. So entsprachen denn auch die Materialien zur Berufsorientierung stark den traditionellen Geschlechterstereotypen. Im Feld der Berufswahl kommen also Geschlechterstereotype und Berufsstereotype zusammen.

Fazit: Zur Relevanz von Geschlechterstereotypen für Berufsentscheidungen

Geschlechterstereotype sind nach wie vor in entscheidendem Maße für das Berufswahlverhalten junger Menschen relevant. Auch hat sich das Berufswahlspektrum von Jungen und Mädchen nicht entscheidend erweitert.
Dr. Cornelißen stellte abschließend fest, dass Geschlechtersstereotype und Berufsimages oftmals einem unreflektierten Alltagswissen entspringen. Auch das popularisierte Expertenwissen - beispielsweise in der Berufsberatung - trägt seinen Teil zur Geschlechtssegregation in der Berufswahl bei. Die Wissenschaft kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie Erkenntnisse liefert, beispielsweise zu Berufsinteressen und -entscheidungen von Frauen und Männern, und zu den Effekten der Berufsbezeichnungen und -beschreibungen für die Attraktivität von Berufen.

Diskussion

In der anschließenden Diskussion stellte sich die Frage nach Ansatzpunkten für Maßnahmen. Wie groß ist die Relevanz der Berufsberatung sowie der Berufsbezeichnungen und -beschreibungen für die tatsächlichen Berufsentscheidungen? Sind dies entscheidende Punkte, auf die Politik und Sozialpartner guten Einfluss nehmen können, oder müssen die Erwartungen an solche Maßnahmen relativiert werden?

Wenn unbestritten ist, dass geschlechtsneutrale Berufsbezeichnungen – ebenso interessantes wie kritisch zu betrachtendes Beispiel: die Endung „-Assistenz” – zu einem höheren Frauenanteil führen, ist es dann sinnvoll, diese Bezeichnungen strategisch einzusetzen? Oder werden damit neue Geschlechterstereotypen und Abwertungen reproduziert?
Nicht nur die Politik ist hier gefragt. Ein Diskutant weist darauf hin, dass die Berufsbeschreibungen (z.B. in "Berufe aktuell") durch Arbeitgeber und Gewerkschaften ausgehandelt werden.

Für die Schule wurde der Zuschnitt neuer Schulfächer erörtert, wie zum Beispiel 'Mensch und Umwelt'. Wo dieses Fach jedoch als Gegenstück zu Informatik verstanden wird, werden duale Strukturen reproduziert.
Dr. Cornelißen regte an, gemäß des Fähigkeitsselbstkonzepts, schon früh in Elternhaus und Schule Berufsstereotype zu thematisieren und diese zu reflektieren. Es gehe dabei nicht darum, Kindern (möglicherweise stereotype) Wünsche auszureden, sondern ihre Wissbegierde wach zu halten und sie in all Ihren Interessen zu unterstützen. In einer Lebensphase, in der junge Menschen noch nicht wissen (können), wohin der Berufsweg sie führen könnte, werden solch wichtige Entscheidungen wie die der Berufswahl oft unter Rückgriff auf klassische Geschlechterstereotype getroffen.

Ein weiterer Diskussionsansatz ist die Wertigkeit der Tätigkeiten. So werden Berufe, wenn der Frauenanteil in ihnen steigt, oft durch geringere Bezahlung abgewertet und verlieren insgesamt an Ansehen, wie das historische Beispiel des Sekretärs und der Sekretärin veranschaulicht.
Ziel sollte es sein, die starke Segregation der Berufe zu überwinden und deren geschlechtstereotype Beschaffenheit zu reduzieren, um eine gerechte Anerkennung und Bewertung aller Tätigkeiten zu erreichen.

Hilfreich wären auch hier angemessenere Tätigkeitsbeschreibungen in Tarifverträgen sowie Arbeitsbewertungen, die den tatsächlichen Anforderungen des jeweiligen Berufsfeldes gerecht werden.

Als erster kleiner Schritt in die richtige Richtung wurde die kürzliche Einführung der „Vätermonate” thematisiert, durch die auch Männer zu einem "unsicheren Faktor" im Erwerbsleben werden. Wünschenswert sei, als nächster Schritt, eine paritätische Aufteilung der Elternzeit zwischen den Eltern.

Ein weiterer Diskussionspunkt widmete sich der Frage, ob und welche Verantwortung die Medien für die Reproduktion von Geschlechterstereotypen in Bezug auf das Berufswahlverhalten tragen.

Abschließend ist zu bemerken, dass die Forschungsgrundlage zur Ausbildung, speziell was die schulische Ausbildung oder auch die Übergänge zwischen Ausbildung und Berufswelt angeht, generell sehr dünn ist. Besonders für die Verknüpfungen zwischen individuellen Motivlagen und Angeboten auf dem Arbeitsmarkt besteht noch Forschungsbedarf.


Weitere Informationen zur Vortragenden:

PD Dr. Waltraud Cornelißen ist seit 1999 Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik am Deutschen Jugendinstitut e.V. in München. Sie habilitierte sich 1998 am Institut für Soziologie der Universität Oldenburg und ist unter anderem Mitglied im Beirat der Agentur Mädchen in Wissenschaft + Technik an der TU München sowie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Sektion Frauen- und Geschlechterforschung).
Weitere Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.



Veröffentlichungen zum Thema (Auswahl):

Zusammen mit Monika Stürzer, Henrike Roisch, Annette Hunze: Geschlechterverhältnisse in der Schule, Leske + Budrich 2003

Zusammen mit Oliver Brandt: Berufsfindung in einer geschlechterkodierten Welt, in: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien Heft 4/2004, S. 21-38

Berufsfindung und Lebensplanung in unübersichtlichen Zeiten (2006). In: Caritas Schweiz (Hrsg.): Sozialalmanach Caritas Schweiz 2007, Schwerpunkt: Eigenverantwortung, Caritas-Verlag Luzern, S. 197-208

Lebenswünsche und Berufswahl von Mädchen: Was kann die Schule zu der Erweiterung des Berufswahlspektrums von Mädchen beitragen? Vortrag bei der Veranstaltung „Girls go business – wer geht mit?” von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag NRW, Düsseldorf, 12. Januar 2007


Weiterführende Literatur:

Dölling, Irene (2005): “Geschlechterwissen” – ein nützlicher Begriff für die “verstehende” Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen, in: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien, Heft 1+2/2005: 44-62

Ostendorf, H.: Steuerung des Geschlechterverhältnisses durch eine politische Institution. Die Mädchenpolitik der Berufsberatung, Opladen: Budrich 2005

Walper, S./Schröder, R.: Kinder und ihre Zukunft, in: LBS-Initiative Junge Familie (Hg.): Kindheit 2001: Das LBS-Kinderbarometer. Was Kinder wünschen, hoffen und befürchten, Opladen 2002

Wentzel, W.: Die Berufsorientierung von Schülerinnen in der Altersentwicklung, in: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, Heft 1 / 2007, S. 88-109

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