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„Geschlechterdifferenzierung und Gleichheitsnorm: Tücken der Gleichzeitigkeit“

Gender Lecture mit Prof. Dr. Regine Gildemeister, Universität Tübingen,am 14. Januar 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Schwerpunktthema „Geschlechterstereotype in Wissenschaft und Gesellschaft“


„Alle Menschen sind gleich“ - oder doch nicht? Inwieweit prägen geschlechterstereotype Annahmen über weibliche und männliche Kompetenzen berufliches Handeln und stehen damit im Widerspruch zu einem Gleichheitsanspruch? Prof. Gildemeister erläuterte am Beispiel einer empirischen Untersuchung im Berufsfeld des Familienrechts, wie trotz eines expliziten Gleichheitsverständnisses ein oft implizit bleibendes geschlechterstereotypes Alltagswissen in die juristische Praxis eingeht. Nach einer Skizzierung der geschlechtlich segregierten Arbeitsmarktsituation stellte Gildemeister vor, wie das Familienrecht als „affin weiblich“ konstruiert wird und wie Familienrechtler und – innen vor allem in der Anwaltschaft in ihrem biographischen und ihrem professionellen Handeln an der Herstellung eines asymmetrischen Geschlechterverhältnisses beteiligt sind.

Ausgangsannahme von Gildemeister ist, dass durch die Institutionalisierung von Gleichstellungsprogrammen die Diskrepanz zwischen dem „Prinzip“ der Gleichstellung und der „sozialen Realität“ der Differenzierung zunehmend sichtbar wird. Seit 120 Jahren ist die Geschlechtersegregation in der Erwerbsarbeit zwar statistisch stabil, variiert aber inhaltlich: Ein Großteil der Frauen entscheidet sich weiterhin für nur wenige Berufsfelder (horizontale Segregation); nur vereinzelt sind Frauen in höheren und höchsten Führungsebenen zu finden (vertikale Segregation). Es gibt jedoch inzwischen auch zahlreiche Berufe, die „ihr Geschlecht gewechselt“ haben. Im Alltagswissen kursieren dennoch bis heute hartnäckige Vorstellungen von „typisch weiblichen“ und „typisch männlichen“ Kompetenzen; bestärkt werden diese durch populärwissenschaftliche und fachlich höchst zweifelhafte Versuche, Geschlechterdifferenzen evolutionstheoretisch zu begründen. Dem zufolge stellt die Geschlechtertrennung auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig das Schlüsselphänomen für die Analyse der sozialen Konstruktion von Geschlecht dar, so Gildemeister. Gemäß dieser Annahme folgert sie, dass mit der Segregation im juristischen Berufsfeld die Kategorie Geschlecht auch in das juristische Handeln einziehe. Sie nennt dies „Infizierungen beruflichen Handelns“, wenn z.B. die Art der Rechtsauslegung oder der Arbeitsstil betroffen sind.

Das Berufsfeld des Familienrechts sieht Gildemeister als ein „instruktives Beispiel“ für die Gleichzeitigkeit von einem universalen Gleichheitsanspruch, der alle Menschen einschließt und einem „geschlechterbezogenen Partikularismus“, der zwischen „den Frauen“ und „den Männern“ unterscheidet. Berufliches Handeln in Professionen - und eben auch im Selbstverständnis der Akteure im Ehe- und Familienrecht - basiert auf „allgemeingültigem Wissen, das programmatisch ohne Ansehen der Person erfolgt“: das Geschlecht darf also im Entscheidungsprozess keine Rolle spielen. Gleichzeitig werden jedoch die Rechtsgebiete Familie, Jugend und Soziales als „weiblich affine“ Arbeitsgebiete gedacht und damit geschlechterstereotype Annahmen von spezifischen „weiblichen“ und „männlichen“ Tätigkeitsfeldern aktiviert und reproduziert. Dieses paradoxe Phänomen der Gleichzeitigkeit von Gleichheitserwartung bzw. -gebot und geschlechterbezogenem Partikularismus sei typisch für eine Zeit nach der Aufklärung bis heute, so Gildemeister.

Die Ursache für die Zuschreibung des Familienrechts als affines weibliches Arbeitsfeld begründe sich in der Bedeutung der Familie als einem Ort, in dem Geschlechterunterschiede verankert werden. Familie fungiert als ein wichtiger Bezugspunkt für die gesetzliche Regulierung von Beziehungen. Entgegen des juristischen Selbstverständnisses, dass ausschließlich Fachkompetenz für die Eignung für ein bestimmtes Arbeitsfeld ausschlaggebend sei, werden mit dem Berufseintritt in die Anwaltschaft vor allem Frauen ermutigt (und manchmal nahezu genötigt), sich auf den Bereich des Familienrechts zu spezialisieren.
In den Gruppendiskussionen mit Anwälten und - innen wird dies weniger durch interne stereotype Zuschreibungen und mehr durch eine verstärkte externe Nachfrage der Klientel nach Anwältinnen in diesem Bereich begründet. Begründet werde diese mit dem Wunsch nach besonderer Empathiefähigkeit im Arbeitsfeld Familienrecht, die automatisch mit „Weiblichkeit“ assoziiert wird. In der Justiz – im Richterberuf – sind solche Stereotype sehr viel weniger verbreitet. Die Anwältinnen geben auch an, dass das Berufsfeld des Familienrechts strukturell besonders gut mit ihren eigenen Familienaufgaben vereinbar sei. Die berufsbiographischen Interviews zeigen, dass Geschlechterdifferenzen nicht „ungefiltert durchschlagen“ sondern „in institutionell unterschiedlicher Weise“ in den Handlungs- und Definitonsraum der einzelnen Professionellen einfließen und diesen vordefinieren. Die Kategorie Geschlecht hat also in den Berufsbiographien eine sehr unterschiedliche Bedeutung - im Studium z.B. eine geringere als bei Berufseintritt . Damit stellt stellt sie keine durchgängig wirksame oder gar unabhängige Variable dar.

Auf der Ebene des beruflichen Handelns verdeutlichte Gildemeister das Paradox von Gleichheitsnorm und Geschlechterdifferenz am Beispiel eines Entscheidungsfindungsprozesses einer Familienrichterin. Dabei zeige die Sequenzanalyse eines Interviewausschnitts zu einer Falldarstellung , dass bei der Entscheidungsfindung sowohl der Universalismus richterlichen Handelns betont wird als auch geschlechterstereotype Zuschreibungen greifen. So werden bei der Abwägung, welcher Part einer heterosexuellen Paarbeziehung die bessere Fürsorge für die Kinder leisten kann, stereotype Bilder von der „Mutter, die die Kinder brauchen“, und vom dem „Vater, der sowieso nie da ist und sich nicht kümmert“, reproduziert. Die Richterin kann in ihrer Entscheidungsfindung den selbst gestellten Gleichheitsanspruch nicht einlösen. Sie befindet sich im Konflikt zwischen ihrem expliziten Gleichheitsanspruch, der eine „De-Thematisierung“ von Geschlecht erfordert, und ihrem impliziten Differenz-Wissen, das eine nachdrückliche Geschlechterunterscheidung beinhaltet.

Unter dem Motto „Sachlogik versus Lebenspraxis“ resümierte Gildemeister Indikatoren für die Relativierung von Gleichheitsnormen. Sie zeigte, dass Sachlogiken im Vergleich zu einem lebenspraktischen Wissen über geschlechterbezogene Differenzierungen im Berufsfeld des Familienrechts weniger wirksam sind. Der Rekurs auf Geschlechterstereotype wird umso wahrscheinlicher, je näher berufliches Handeln an den Bereich privater Reproduktion herankomme. In den berufsbiographischen Erzählungen der Interviewten zeigt sich, dass Lebensentscheidungen nicht frei von gesellschaftlichen Bedingungen getroffen werden - auch wenn sie von den Anwältinnen als je individuell wahrgenommen werden. Geschlecht habe demnach als „strukturrelevante und zum Teil strukturbildende Kategorie“ weiterhin einen „Status selbstverständlicher Geltung“ und damit Einfluss auf lebenspraktische Entscheidungen von Frauen und Männern.

In der anschließenden Diskussion betonte Gildemeister, dass die Geschlechterdifferenz nicht bedeutungslos geworden sei und in absehbarer Zukunft auch nicht werde. Vielmehr stelle die im Vortrag dargelegte Widersprüchlichkeit den Schlüssel zur sozialen Wirklichkeit dar: Die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus müsse sichtbar gemacht und deren Wirksamkeit aufgezeigt werden. Es wurde erörtert, inwieweit die Individualisierungstendenz und die mangelnde Reflexion der strukturellen Diskriminierung bei beruflichen Lebensentscheidungen einen großen Beitrag dazu leisten, warum die tatsächliche Gleichstellung bis dato nicht realisiert ist. Es stellte sich die Frage, weshalb das Wissen um die Geschlechterkonstruktion nicht in die juristische Ausbildung Eingang gefunden hätte; Gildemeister verwies auf das Phänomen der Banalisierung der Resultate von Geschlechterforschung von Seiten vieler Juristen und Juristinnen. Offen blieb die Frage, wie die Perspektive der Intersektionalität in dem vorgestellten Forschungszusammenhang integrierbar wäre und inwieweit das Konzept der Heteronormativität zu Ergebnissen führen könnte, die den Kern der Konstruktionsmodi der Geschlechterverhältnisse betreffen. Nach Gildemeister ist es für die berufliche Praxis relevant, mittels Supervision und Weiterbildung eine Sensibilität für die selbstverständliche Konstruktion der Geschlechterdifferenzierungen zu entwickeln und dadurch die Entbanalisierung der Thematik zu erreichen.


Zur Referentin:

Prof. Dr. Regine Gildemeister ist Professorin für „Soziologie der Geschlechterverhältnisse“ am Institut für Soziologie an der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Prozesse der sozialen Konstruktion von Geschlecht; Interaktion und Geschlecht; Beruf und Geschlecht; Analyse von Professionalisierungsprozessen insbes. in Sozial- und Gesundheitsberufen, Interaktions-, Organisations- und Institutionenanalyse, rekonstruktive Sozialforschung.

Wichtigste Publikationen zum Thema (Auswahl):

Gildemeister, Regine / Wetterer, Angelika (Hrsg.): Erosion oder Reproduktion geschlechtlicher Differenzierung? Widersprüchliche Entwicklungen in professionalisierten Berufsfeldern und Organisationen. Münster, 2007.

Maiwald, Kai-Olaf / Gildemeister, Regine: Die Gleichzeitigkeit von Gleichheitsnorm und Geschlechterdifferenzierungen im Berufsfeld Familienrecht: Zur Bedeutung lebenspraktischer Entscheidungen, in: Gildemeister, Regine / Wetterer, Angelika (Hrsg.): Erosion oder Reproduktion geschlechtlicher Differenzierung? Widersprüchliche Entwicklungen in professionalisierten Berufsfeldern und Organisationen. Münster, 2007, S. 56-75.

Gildemeister, Regine: Soziale Arbeit als Frauenberuf: Wurden soziale Hilfstätigkeiten vergeschlechtlicht oder Frauen im Beruf versozialarbeitet?, in: Krauß, E.J. / Möller, M. / Münchmeier, R. (Hrsg): Soziale Arbeit zwischen Ökonomisierung und Selbstbestimmung, Kassel, 2007, S. 613-636.

Gildemeister, Regine / Maiwald, K.-O. / Scheid, C. / Seyfarth-Konau, E.: Geschlechterdifferenzierungen im Horizont der Gleichheit. Exemplarische Analysen zu Berufskarrieren und beruflicher Praxis im Familienrecht, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 2003.

erstellt von Administrator zuletzt verändert: 09.08.2010 17:14