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"Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familie – Chancen und Barrieren für die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse"

Dr. Karin Jurczyk und Dr. Michaela Schier am 16. Juli 2007:

"Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familie – Chancen und Barrieren für die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse"


„Welchen Beitrag leistet die Entgrenzungsforschung zur Modernisierung von Geschlechterverhältnissen?“ Dieser Frage gingen Dr. Karin Jurczyk und Dr. Michaela Schier vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) im Rahmen der Gender Lectures des GenderKompetenzZentrums an der Humboldt-Universität zu Berlin nach. Der Vortrag schließt das Rahmenthema „Familie und Gleichstellung – Einheit oder Widerspruch?“ ab.


In welche Richtung vollziehen sich die „Entgrenzungen“ zwischen Erwerbsarbeit und Familie? Ausgangspunkt ist, dass die Geschlechterverhältnisse sich zwar modernisiert haben, doch dies auf eine heterogene und widersprüchliche Weise geschieht. “Modernisierung“ bezeichnet dabei meist, so Karin Jurczyk einführend, die gegenwärtigen komplexen Veränderungen weiblicher Lebensformen, die im Zusammenhang mit den veränderten Arbeits- und Lebensformen von Männern stehen. Die Modernisierung von Männlichkeiten erscheint dabei als eine „reaktive Modernisierung“. Diese Widersprüchlichkeit und Heterogenität der Geschlechterverhältnisse auf dem Weg zur „zweiten Moderne“ betrifft institutionelle Rahmungen, alltägliche Praktiken, Einstellungen und kulturelle Leitbilder. Das widersprüchliche Nebeneinander unterschiedlicher Ausprägungen „traditioneller“ und „moderner“ Elemente in den Geschlechterverhältnissen ist deshalb gegenwärtig nicht nur präsent, sondern auch typisch. Im Zuge der Modernisierung bilden sich „Ungleichheitscluster“ heraus, d.h. moderne und traditionelle Elemente treten unterschiedlich stark in den Vordergrund.

Der Begriff der Entgrenzung verweist auf aktuelle Veränderungen und Umbruchprozesse zwischen Erwerbsarbeit und Familie. Als Entgrenzung der Arbeit gilt ein gesellschaftlicher und ökonomischer Wandel in Folge der zweiten Moderne, durch den die ehemals klaren Grenzen zwischen Arbeit und Privatem, Privatheit und Öffentlichkeit sowie zwischen Arbeitszeit und Freizeit durchlässig werden und nicht mehr eindeutig definierbar sind. Das so genannte „Normalarbeitsverhältnis“ hat zugunsten atypischer Beschäftigungsformen an Bedeutung verloren. Diese Veränderungen haben nicht zur Folge, dass sich Arbeitsverhältnisse pluralisieren, sondern die Arbeitszeiten polarisieren sich auch, d.h. die Erwerbsarbeit wird zeitlich flexibler und unregelmäßiger. Außerdem nimmt die Flexibilisierung des Arbeitsortes zu: Es gibt mehr Umzugs- und Pendelmobilität. Es kommt zu einer „Subjektivierung der Arbeit“: Menschen werden zu „Arbeitskraftunternehmer/-innen“.
Die Entgrenzung der Arbeit geht mit dem Phänomen der Feminisierung der Erwerbsarbeit einher. Auf quantitativer Ebene zeigt sich dies z.B. durch die steigende Frauen- und Müttererwerbstätigkeit, die allerdings immer noch ausschließlich in Form von Teilzeitbeschäftigung stattfindet. Auf qualitativer Ebene ist insbesondere die Teilhabe von Frauen an Führungspositionen und die unterschiedliche Entlohnung von Frauen im Vergleich zu Männern bedeutsam. Ein Effekt der Feminisierung der Erwerbsarbeit ist ein „Downgrading“ für Männer: Männer weisen brüchigere Karrieren durch Zeiten der Arbeitslosigkeit auf, ihre Arbeitsstellen sind zunehmend befristet, die Teilzeitquoten steigen und sie bekommen niedrigere Einkommen als früher. Diese Entwicklungen haben zur Folge, dass immer mehr Männer nicht mehr in der Lage sind, die traditionelle Ernährerrolle zu erfüllen. Durch die „Erosion des Ernährermodells“ entsteht ein gesellschaftlicher Zwang zum Zweiverdienermodell.

Die Entgrenzung der Familie geht mit der Entgrenzung von Arbeit einher. Im privaten Lebensbereich vollziehen sich grundlegende Veränderungen in den strukturellen, kommunikativ-interaktiven und den sachlich-inhaltlichen Dimensionen Die strukturelle Ebene meint die Haushalts- und Familienformen – dort wachsen Vielfalt und Dynamik an. Es gibt heute mehr Alleinerziehende, aber auch in der Folge von Trennung erweiterte Familien und andere alternative Formen von Partnerschaft und Familie; dazu kommt die „Multilokalität“ von Familien, also das räumlich getrennte Leben von einzelnen Familienmitgliedern an verschiedenen Orten. Die kommunikativ-interaktiven Entgrenzung meint, dass sich Familie zu einem Ort der Aushandlung von Motivationen und Bedürfnissen entwickelt, die Rollen sind nicht mehr festgelegt und unwandelbar; die Familie wird damit zur „Aushandlungsfamilie“. Die sachlich-inhaltliche Dimension meint schließlich die zunehmende Auflösung der institutionellen Arbeitsteilung zwischen staatlichen und familiären Aufgaben: Einerseits gibt es steigende gesellschaftliche Ansprüche an die Eltern und andererseits nimmt das Bedürfnis der Familien nach Kinderbetreuung durch öffentliche Institutionen zu.
Die Entgrenzung im erwerbstätigen und familiären Leben spiegelt sich auch in den Veränderungen der Geschlechterrollen wider, vor allem der kulturellen Leitbilder und Einstellungen bezüglich der Geschlechter. Nicht nur die „natürliche Ordnung“ der Geschlechter wird aufgeweicht; auch ein „modernes“ Rollenverständnis gewinnt an Bedeutung. Durch die steigende Berufsorientierung von Müttern verändert sich das Bild der „guten“ Mutter, und ähnlich wandelt sich das Leitbild der Väterlichkeit von dem „Haupternährer“ zum „aktiven Vater“. Es muss demnach von einer doppelten Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familie ausgegangen werden. Eine Modernisierung von Geschlechterverhältnissen wird dann nicht nur durch Veränderungen innerhalb der beiden Sphären bewirkt, sondern die Veränderung von Geschlechterverhältnissen führt selbst dazu, dass geschlechtlich konnotierte Muster in Erwerbsarbeit und Familienleben aufgebrochen und modernisiert werden können.

Die These dieser doppelten Entgrenzungen illustrierte Michaela Schier dann mit drei ausgewählten Fällen als „Szenarien“ der Modernisierung von Geschlechterverhältnissen. Sie bezieht sich damit auf das laufende Forschungsprojekt „Entgrenzte Arbeit – Entgrenzte Familie: Neue Formen der praktischen Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld Arbeit und Familie“ des Deutschen Jugendinstituts in München.

Das erste Szenario ist durch „Polarisierung und (Re)Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse“ charakterisiert. Kennzeichnend ist zunächst die „Traditionalität“: Die Erwerbstätigkeit des Mannes bleibt faktisch dominant, während die Frau sich zwischen dem Verzicht auf Erwerbsarbeit oder einer Organisation des Alltags zwischen Beruf und Familie entscheiden muss. Es bleibt unhinterfragt, dass nach der Geburt der Kinder die Frau die Hauptverantwortliche für Haushalt und Kindererziehung ist und der Mann die traditionelle Ernährerrolle übernimmt. Frauen greifen dann, um Familien- und Berufsleben miteinander vereinbaren zu können, auf „weibliche Fürsorgeketten“ zurück. Spielräume für Frauen, in denen sie ihren eigenen, außerfamiliären Zielen nachgehen, sind zwar möglich – allerdings nur insofern, als Erwerbs- und Familienarbeit nicht beeinträchtigt werden.

Das zweite Szenario ist das der „Angleichung der Geschlechter“. Hier wollen Frauen ebenso wie Männer der Erwerbsarbeit nachgehen; umgekehrt sollen Männer die Haus- und Fürsorgearbeit in ähnlicher Weise wie Frauen übernehmen. Allerdings sind Frauen hier der „Motor der Modernisierung“, denn sie fordern nicht nur ihr Recht auf eine eigene Erwerbsarbeit, sondern auch die Beteiligung der Partner bei der Haus- und Fürsorgearbeit ein. Obwohl dieses Szenario auf den ersten Blick egalitär zu sein scheint, spielen in subtiler Form noch geschlechtsspezifische Zuweisungen und traditionelle Orientierungen im Alltag eine Rolle.

Das dritte Szenario ist das der „Egalisierung der Geschlechterverhältnisse“. Hier findet sich die beidseitige Akzeptanz von Erwerbsarbeit, eine gleiche Praxis beim Alltagsarrangement und in der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Das Geschlecht und die geschlechtsspezifischen Konnotationen der Arbeitsorganisation spielen bei der Gestaltung dieses Familienlebens keine Rolle mehr. Es ist nicht nur eine Person in der Familie für die Haushaltsarbeit, Fürsorge und Betreuung von kleinen Kindern verantwortlich und zuständig, sondern alle Familienmitglieder sind in gleicher Weise, unabhängig von ihrem Geschlecht, beteiligt. Die Egalität dieses Modells ergibt sich daraus, dass dieses Familien- und Arbeitsarrangement flexibel ist, also eine Änderung der Rollen und Zuständigkeiten jederzeit möglich scheint.

Jurczyk und Schier betonten, dass die Entgrenzung von Erwerbsarbeit keinesfalls automatisch zu mehr Egalität und zu einer Modernisierung von Geschlechterverhältnissen führt. Vielmehr stellt die Entgrenzung neue strategische Anforderungen an die Familienführung, die unterschiedliche und widersprüchlichen Geschlechterverhältnisse berücksichtigen muss. Deshalb warnten die Referentinnen vor Verallgemeinerungen im Bezug auf die Folgen der Entgrenzung für Frauen und Männer, denn Entgrenzung kann sowohl Chancen als auch Barrieren für die Modernisierung der Geschlechter mit sich bringen. Zum Beispiel werden Chancen von Frauen und Männern mit unterschiedlichen Bildungsniveaus und aus unterschiedlichen sozialen Schichten ungleich gedeutet und sehr unterschiedlich genutzt.

In der nachfolgenden Diskussion ging es um die Bedeutung des Begriffs der Egalität im Vergleich zur Parität und zur Subversion. Ist die Egalität im dritten Szenario nicht eher eine Subversion, also eine Umkehrung der geschlechtlichen Rollenverteilungen. Dagegen spricht aus Sicht der Referentinnen, dass Geschlechterzugehörigkeit in diesem Szenario kein Begründungsmuster mehr für Erwerbs- und Familienarrangements zu sein scheint und flexibel mit dessen Gestaltung umgegangen wird. Die „Biografisierung von Vielfalt“ wird zu einer zukünftigen Herausforderung für Lebensführungsforschung und auch für Politik. Dabei reicht es nicht aus, „Optionen für Vielfalt“ zu schaffen, sondern es müssen „Korridore für Rahmungen“ ermöglicht werden.


Hier finden Sie die Präsentation von Dr. Jurczyk und Dr. Schier.

Zu den Referentinnen:

Dr. phil. Karin Jurczyk ist Diplom-Soziologin und seit Januar 2002 Leiterin der Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI) in München. In dieser Funktion leitet sie das Projekt „Entgrenzte Arbeit – Entgrenzte Familie. Neue Formen der praktischen Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld Arbeit und Familie“ (04/2003-08/2007) – gefördert durch das DJI und die Hans-Böcker-Stiftung, in Kooperation mit der TU Chemnitz.
Sie promovierte zum Thema „Familienpolitik als andere Arbeitspolitik“ (Universität Bremen) und arbeitete seitdem als wissenschaftliche Mitarbeiterin in mehreren DFG-geförderten Sonderforschungsbereichen zu Berufs- und Arbeitsforschung an der Ludwig-Maximilian Universität München. Sie ist in europäischen und nationalen Forschungsnetzwerken und Gremien zu Gender, Familie und Arbeit aktiv, u.a. ist sie kooptiertes Mitglied der Kommission des 7. Familienberichts der Bundesregierung und Mitbegründerin der Frauenakademie München e.V.. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Care, Familienpolitik, Genderforschung sowie Soziologie des Alltags.

Ausgewählte Veröffentlichungen:
  • Diller, Angelika/ Jurczyk, Karin/ Rauschenbach, Thomas (Hrsg.) (2005): Tagespflege zwischen Markt und Familie. Neue Herausforderungen und Perspektiven.
  • Jurczyk, Karin/ Lange, Andreas/ Szymenderski, Peggy (2005). Zwiespältige Entgrenzungen: Chancen und Risiken neuer Konstellationen zwischen Familien- und Erwerbstätigkeit. In: Mischau, Anina/ Oechsle, Mechtild (Hrsg.): Arbeitszeit - Familienzeit - Lebenszeit: Verlieren wir die Balance? ZfF, Sonderheft 5, Wiesbaden, S. 13-33.

Dr. geogr. Michaela Schier ist Diplom-Geografin und seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Familie und Familienpolitik am DJI in München und arbeitet z.Zt. als Projektbearbeiterin im Projekt „Entgrenzte Arbeit – Entgrenzte Familie“ des DJI mit. Sie promovierte zum Thema „Münchner Modefrauen. Eine arbeitsgeographische Studie über biographische Erwerbsentscheidungen in der Modebranche“ (LMU München). Sie war u.a. als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem bilateralen Forschungsprojekt der Universitäten Tübingen-Cuiabá/Brasilien und am Geographischen Institut der TU München tätig und arbeitete als wissenschaftliche Referentin beim Verband allein erziehender Mütter und Väter - Bundesverband e.V. in Bonn. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Arbeits- und Familienforschung, Geschlechterforschung, Migration, Obdachlosigkeit und Regional- und Entwicklungsforschung.

Ausgewählte Veröffentlichungen:
  • Schier, Michaela & Jurczyk, Karin (2007): Familie als Herstellungsleistung in Zeiten der Entgrenzung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (im Erscheinen).
  • Schier, Michaela/ Szymenderski, Peggy (2007): Flexible Erwerbsarbeit rund um die Uhr – Belastungen von Beschäftigten mit Familie im Einzelhandel. In: WSI-Mitteilungen (im Erscheinen).
  • Schier, Michaela (2007): Räumliche Entgrenzung von Arbeit und Familie: Einsichten in den multilokalen Alltag (im Erscheinen).
  • Schier, Michaela (2005): „Münchner Modefrauen. Eine arbeitsgeographische Studie über biographische Erwerbsentscheidungen in der Modebranche.“ (Arbeit und Leben im Umbruch. Schriftenreihe zur subjektorientierten Soziologie der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft, Bd. 8) Mering.
erstellt von Administrator zuletzt verändert: 09.08.2010 17:11