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"Kinderwunsch ade? Warum Frauen und Männer (keine) Kinder haben wollen"

Gender Lecture mit Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe:


Am 17. Juli 2006 hielt Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe im Rahmen der Gender Lectures des GenderKompetenzZentrums an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Vortrag zum Thema: „Kinderwunsch ade? Warum Frauen und Männer (keine) Kinder haben wollen“. Anlass für einen Vortrag mit diesem Titel ist die im Zuge des demographischen Wandels stark angestiegene mediale und politische Aufmerksamkeit für die sinkende Geburtenrate und das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Prof. Dr. Meier-Gräwe lotete in ihrem Vortrag Ursachen der zunehmenden Kinderlosigkeit aus. Zudem entwickelte sie Perspektiven einer geschlechterdemokratischen Gesellschaft, die ihrer Meinung nach zu neuen Balancen von Beruf und Familie im Alltag und entlang des Lebenslaufs finden muss.


Einleitend skizzierte Prof. Dr. Meier-Gräwe kurz die unterschiedlichen Familienmodelle der DDR und der Bundesrepublik und die Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit bei der Ausbildung von Frauen und in den Rollenbildern der Gesellschaft vollzogen haben. Sie wies darauf hin, dass es mit dem Mauerfall eine Chance gegeben hätte, auf den Wandel seit den 1970er Jahren zu reagieren und eine moderne Familienpolitik für das wiedervereinigte Deutschland auf den Weg zu bringen, diese Chance aber nicht genutzt wurde. Erst jetzt, nach den Ergebnissen der PISA-Studie und im Angesicht des bevorstehenden Fachkräftemangels, beginne ein Umdenken und es werde deutlich, dass eine Neuorientierung im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie unbedingt erfolgen muss.
Zu Beginn stellte Prof. Dr. Meier-Gräwe die Entwicklungen und Veränderungen bei der Lebensplanung von Frauen und Männern dar: So nimmt die Erwerbsarbeit stetig an Bedeutung zu und wird positiver bewertet als Hausarbeit. Ein starker Kinderwunsch wird inzwischen auch bei Frauen mit einer hohen Berufsorientierung verbunden. Um diese Vorstellungen vereinbaren zu können, wird eine gleichwertige Verteilung von Familien- und Berufsaufgaben angestrebt, die aber nachweislich häufiger von Männern als von Frauen nicht realisiert wird. Hier liegt eine der Ursachen für konfliktbeladene Paarbeziehungen nach Geburt eines Kindes, die immer häufiger zu Trennung oder Scheidung führen.

Als weitere Entwicklung führte Prof. Dr. Meier-Gräwe die stetig steigende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen an. Sie machte darauf aufmerksam, dass in diesem Zusammenhang insbesondere eine Analyse der Wochenarbeitszeit aufschlussreich ist. Diese zeigt, dass bei Frauen die Teilzeitarbeit dominiert und die Erwerbsarbeit im Lebensverlauf durch Phasen der ausschließlichen Familienarbeit unterbrochen wird, während bei Männern in der Regel eine durchgehende Vollzeiterwerbstätigkeit zu finden ist. Durch weiterhin bestehende Lohn- und Gehaltsdifferenzen zwischen Frauen und Männern wird die traditionelle Rollenverteilung laut Prof. Dr. Meier-Gräwe spätestens beim Übergang zur Elternschaft verfestigt. Dass diese Entwicklung größtenteils nicht den Wünschen und Vorstellungen der jungen Menschen entspricht, machen Zahlen der Bertelsmann Stiftung deutlich: Dort gaben 2002 in einer Studie zum Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ 52,3% aller Paare mit Kindern an, das Modell „Mann Vollzeit, Frau nicht erwerbstätig“ zu leben. Allerdings sagten nur 5,7% der Befragten, dass sie sich diese Konstellation auch wünschen. Auch die Zahlen des Eurobarometers belegen, dass für Frauen in Deutschland immer wieder die Situation entsteht, sich zwischen Beruf und Kind entscheiden zu müssen. Vor diese Entscheidung gestellt, wählen immer mehr Frauen die berufliche Karriere und verschieben den Kinderwunsch zunächst biographisch zunächst weiter nach hinten und bekommen am Ende überhaupt auf ein Kind.. Ein Kohortenvergleich macht deutlich, dass die Zahl derer, die am Ende ganz auf Kinder verzichten, über die Jahrgänge ansteigt. Bei einer Erhebung von 35 - 39jährigen Frauen, die ohne Kinder im Haushalt leben, zeigt sich, dass dies am stärksten Frauen betrifft, die einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss erworben haben. Prof. Dr. Meier-Gräwe machte darauf aufmerksam, dass diese Daten jene Frauen, die erst nach dem 39. Lebensjahr Mutter werden, zwar nicht berücksichtigt, dies aber kein Grund zu Entwarnung sei. Zudem habe sich der Anteil von Frauen (und Männern) mit Hochschulabschluss in den letzten 30 Jahren verfünffacht und es ist politisch gewollt, den Anteil der Studierenden in den nächsten Jahren auf bis zu 40 Prozent zu erhöhen, so dass das Thema der Vereinbarkeit einer gewünschten doppelten Lebensplanung zwischen Beruf und Familie in Zukunft eine deutlich größere Zahl von gut ausgebildeten Frauen und Männern betreffen wird.

Prof. Dr. Meier-Gräwe machte darüber hinaus noch auf eine weitere Entwicklung aufmerksam, die ihrer Meinung nach in der aktuellen Diskussion nicht ausreichend berücksichtigt wird. So lässt sich auf dem „Beziehungs- und Heiratsmarkt“ ein deutlicher Anstieg der Ehehomogenität konstatieren und zwar umso ausgeprägter, je länger die Verweildauer im Bildungssystem ist. Dies führt einerseits dazu, dass sich die sozialen Verkehrskreise schließen. Andererseits entwickeln sich aus der Tatsache, dass beide Partner ähnliche Lebenslagen und Qualifikationen aufweisen, andere Konsequenzen für die Lebens- und Familienplanung als in der Vergangenheit . So kann die Entscheidung für eine traditionelle Rollenverteilung zum Beispiel nicht mehr allein mit der Begründung, dass der Mann die bessere Ausbildung hat und daher mehr verdient, getroffen werden. Außerdem geht diese Tendenz mit der fatalen Folge einher, dass auch immer weniger gut ausgebildete Männer Kinder haben.

Im Folgenden erläuterte Prof. Dr. Meier-Gräwe verschiedene Aspekte der herrschenden Zeitkoordinierungspolitik. So führte sie an, dass geschlechter-segregierte Alltagszeiten überwunden werden müssen, um eine gelingende Balance zwischen Beruf und Familie für Frauen und Männer zu ermöglichen. Hier seien auch die Kommunen gefordert, entsprechende Bedingungen zu schaffen, zumal sich Familie zunehmend als „harter“ Standortfaktor erweist. In diesem Zusammenhang wurde auf die unterschiedlichen Zeitverwendungen von Erwachsenen im Haushalt sowie auf eine allgemeine Wahrnehmungsresistenz gegenüber der Bedeutung der generativen Haus- und Sorgearbeit in der bundesdeutschen Gesellschaft hingewiesen. Prof. Dr. Meier-Gräwe machte schließlich auf die Notwendigkeit der Erweiterung des Kompetenzspektrums von Männern aufmerksam, die entstehen könnten, wenn ihnen Erfahrungs- und Lernfelder fürsorglichen Praxis erschlossen werden. Insofern sah die Referentin die Veränderungen beim Elterngeld als einen Schritt in die richtige Richtung an. Männer mit diesem Erfahrungshintergrund seien am Ende auch ein Gewinn für die Wirtschaft, weil davon ausgegangen werden könne, dass Väter als Entscheidungsträger mit dem Thema anders umgehen werden als bisher.

Zuletzt sprach Prof. Dr. Meier-Gräwe das Phänomen der „Rush Hour of Life“ an. Darunter wird verstanden, dass sich im Lebensverlauf vielfältige Anforderungen gerade in der Altersspanne zwischen 30 – 40 Jahren verdichten. So steht in diesem Zeitraum der Berufseinstieg an, gleichzeitig spielt die Partnersuche sowie die anschließende Familiengründung und die weitere Lebensplanung eine wichtige Rolle. Laut Prof. Dr. Meier-Gräwe widerspricht ein so enges Zeitfenster mittlerweile aber den Möglichkeiten: So haben sich sowohl das Zeitfenster der biologischen Fertilität als auch das Zeitfenster für eine Beteiligung am Erwerbsleben infolge der gestiegenen Lebenserwartung erweitert. Um diese neuen Chancen aber auch nutzen zu können, müssten Patchwork-Biographien besser abgesichert und eine weitere Verdichtung des Lebenserwerbsverlaufes verhindert werden.
Prof. Dr. Meier-Gräwe fasste zusammen, dass die Ursachen für Kinderlosigkeit in einer fehlenden Geschlechtersolidarität im privaten wie im öffentlichen Raum und in der flächendeckenden Alltagsvergessenheit männlicher Entscheidungsträger in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zu finden sind. Zudem fehlt es an flexiblen und verlässlichen familienergänzenden Infrastrukturen und Diensten, sowie an der Bereitschaft, Müttern eine eigenständige Berufskarriere zu ermöglichen und eine aktive Vaterschaft strukturell zu unterstützen.
Abschließend stellte Prof. Dr. Meier-Gräwe zusammen, was sie im Rahmen einer zukunftsfähigen und geschlechtersensiblen Familienpolitik für notwendig hält. Zentral ist für sie dabei ein intelligenter Mix aus Zeit-, Infrastruktur- und monetärer Transferpolitik, der unterschiedliche Lebensformen und Lebenslaufphasen berücksichtigt. Zudem sollte ihrer Meinung nach die Vereinbarkeitsfrage um die Aspekte „Ausbildung und Familie“, „Karriere und Kinder“ und „späte Elternschaft“ erweitert werden.
Im Anschluss an den sehr interessanten und faktenreichen Vortrag stellte Prof. Dr. Meier-Gräwe noch das aktuelle Modellprojekt „Studieren und Forschen mit Kind“ vor, das die Sensibilisierung für Vereinbarkeitsprobleme von AkademikerInnen und eine Ressourcenbündelung von verschiedenen Akteuren zum Ziel hat.

In der folgenden lebhaften Diskussion hob Prof. Dr. Meier-Gräwe noch einmal hervor, dass sich in den letzten fünf Jahren im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie schon viel verändert hat, da sowohl die Politik als auch die Wirtschaft den dringenden Handlungsbedarf erkannt haben. Dieser werde besonders durch den Vergleich mit anderen europäischen Staaten deutlich und werde nicht zuletzt durch den absehbaren Mangel an Fach- und Führungskräften stärker ins Bewusstsein gerufen. Prof. Dr. Meier-Gräwe bemängelte aber auch, dass zum Beispiel die EU-Gleichstellungsrichtlinien in Deutschland nicht umgesetzt werden und die Diskurse zu diesen Themen allgemein häufig inkonsistent sind. Sie forderte, dass an allen Faktoren angesetzt werden muss und neue, flexiblere Familien- und Karrieremodelle eingeführt werden müssen, um den individuellen Situationen gerecht werden zu können. Dabei macht es Sinn, sich konsequent an der Politik der nordeuropäischen Länder zu orientieren. Der Erfolg dort beruhe darauf, dass sich Familienpolitik gerade nicht auf eine Erhöhung der Geburtenrate konzentriert, sondern konsequent die ebenbürtige Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt anstrebt und zugleich Gender Equality fördert.


Zur Vortragenden:
Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe ist Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft am Institut für Wirtschaftslehre an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Sie studierte von 1972 bis 1975 Ökonomie und Soziologie in Ostberlin, promovierte 1978 zu einem industriesoziologischen Thema und habilitierte 1986 auf dem Gebiet der Familiensoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach einer wissenschaftlichen Tätigkeit am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR war sie von 1990 bis 1994 als wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut e.V. in München tätig. 1994 erhielt Prof. Dr. Meier-Gräwe die Berufung auf den Lehrstuhl für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft am Institut für Wirtschaftslehre des Haushalts und Verbrauchsforschung der Justus-Liebig-Universität Gießen. In dieser Funktion liegen ihre Arbeitsschwerpunkte in den Bereichen der Frauenforschung und Familiensoziologie sowie bei den Haushaltswissenschaften und dem Nachhaltigen Haushalten. Zur Zeit forscht Prof. Dr. Meier-Gräwe unter anderem zu den Themen „Ernährungsalltag von Familienhaushalten“ und „Studieren und Forschen mit Kind“. Ein Forschungsprojekt mit dem Titel „Datenmodulsystem für die Armuts- und Sozialberichterstattung 2004“ wurde bereits abgeschlossen.
Prof. Dr. Meier-Gräwe ist seit langem in zahlreichen Kommissionen und Ausschüssen aktiv. So war sie von 1993 bis 1998 Bundesvorsitzende von Pro Familia, von 2001 bis 2004 Vorsitzende des dgh-Fachausschusses „Strukturwandel des Haushalts“, von 2002 bis 2004 Mitglied der Enquete-Komission „Bildung und Erziehung“ des Thüringer Landtags, von 2003 bis 2005 Mitglied der Sachverständigen Kommission zur Erstellung des 7. Familienberichts der Bundesregierung und ist seit Ende 2005 Vizepräsidentin der Deutschen Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft. Im Februar 2005 wurde sie in die Enquete-Komission „Demographischer Wandel“ des Saarländischen Landtags berufen und ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Jugendinstituts in München.


Auswahl von Publikationen zu den Themen Kinder, Familie und Vereinbarkeit von Beruf und Familie:
  • Meier, Uta (2005): Prekäre Lebenslagen Alleinerziehender und sozialstaatliche Interventionen - Erfahrungen beim Praxistransfer kommunaler Armutsberichterstattung und praxisbezogener Armuts- und Lebenslagenforschung. In: EAF Familienpolitische Information, 44. Jg., H. 1, S. 1-4.
  • Meier, Uta (2005): Über Geburtenzahlen nachgedacht. In: BONUS, H. 3, S. 30.
  • Meier-Gräwe, Uta (2005): Warum Armutsprävention mehr braucht als monetäre Transferleistungen für Familie. In: VLB Informationen, H. 1, S. 17-26.
  • Meier-Gräwe, Uta (2005): „Ich und mein Märchenprinz, wir machen alles viel besser“ Von der Schwierigkeit, sich in Deutschland für Kinder zu entscheiden und den Alltag mit ihnen zu bewältigen. In: frühe kindheit, Heft 6, S. 26-31
  • Meier-Gräwe, Uta (2006): Bedarfsgerecht, verlässlich und von guter Qualität – Infrastrukturen für Kinder und Eltern als unverzichtbare Kontextbedingung familialer Lebensführung. In: Elternschaft. Freiburger Frauenstudien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauenforschung, Freiburg, S. 37-50
  • Meier-Gräwe, Uta/ Zander, Uta (2005): Veränderte Familienzeiten – Neue Balancen zwischen Männern und Frauen? In: Mischau, Anina/ Oechsle, Mechtild (Hg.): Arbeitszeit – Familienzeit – Lebenszeit: Verlieren wir die Balance? Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft, S. 92-109.
  • Meier, Uta/ Preuße, Heide/ Sunnus, Eva Maria (2003): Steckbriefe von Armut. Haushalte in prekären Lebenslagen. Wiesbaden.
erstellt von Administrator zuletzt verändert: 10.08.2010 10:08