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„Viel gelobt, aber nicht begehrt? Familie heute. Zum Wandel von Familienstrukturen und –leitbildern“

Gender Lecture mit Prof. Dr. Rosemarie Nave-Herz


Zum aktuellen Anlass der breiten Debatten um das Thema Familienpolitik begrüßte das GenderKompetenzZentrum der Humboldt-Universität am 24. April 2006 Prof. Dr. Rosemarie Nave-Herz. In ihrem Vortrag ging sie aus wissenschaftlicher Perspektive verschiedenen Fragen zu Kinderlosigkeit, Familienformen und Leitbildern nach, die in der Öffentlichkeit verhandelt werden.

Einleitend verwies Prof. Nave-Herz auf die Diskussionen um die „Krise“ der Familie, die gerade sehr stark von Parteien und Medien geführt werden. Auffällig sei die Sorge, dass Familie heute nicht mehr begehrt und das Modell der Familie veraltet wäre. Dass die Familie ein Auslaufmodell sei, wird an statistischen Trends festgemacht. Jedoch werden diese, so die Kritik von Nave-Herz, ohne Rückblick auf Ergebnisse der empirischen Sozialforschung präsentiert. Des weiteren ist auch ein Blick auf innerfamiliäre Beziehungen und Veränderungen notwendig, um die aktuellen Entwicklungen zu verorten.

Zunächst umriss Prof. Nave-Herz den Begriff der Familie, der in der Wissenschaft sehr unterschiedlich aufgefasst wird. Festgehalten werden kann, dass Familie
  • ein soziobiologisches Kriterium hat (Reproduktion und Sozialisation),
  • eine Solidaritätsnorm enthält, sowie ein Kooperationsverhältnis ist (Erfüllung von Funktionen) und
  • ein spezifisches Verhältnis der Familienmitglieder zueinander besteht.

Mit einem Überblick über statistische Trends umriss Prof. Nave-Herz die aktuelle Situation in Deutschland. Dem zu Folge nehmen die Eheschließungen leicht ab, während dafür die nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften steigen. Die derzeitige Kinderzahl liegt bei 1,3 Kindern pro Frau (eine der geringsten der Welt), wobei es in den letzten Jahren eine zunehmende Vereinheitlichung der Ein- oder Zwei-Kinder-Ehe gibt. Andererseits hat aber auch die Kinderlosigkeit in Deutschland stark zugenommen (22%), wobei oft die hohe Kinderlosigkeit der Akademikerinnen (44%) diskutiert wird. In diesem Zusammenhang wird in den Debatten aber meist vergessen, dass die Zahl der kinderlosen (männlichen) Akademiker noch höher ist, als bei den Kolleginnen. Da auch die Scheidungraten in Deutschland leicht zunehmen, werde mit diesen Zahlen insgesamt auf eine „Krise“ der Familie geschlossen.
Prof. Nave-Herz warnt jedoch vor einem vorhanden Bezug auf Massenstatistiken, da mit diesen keinerlei Motivanalyse gemacht worden sei. Nach demoskopischen Untersuchungen des Allensbach Instituts, bei denen nach der Wichtigkeit der Familie und dem Zufriedenheitsgrad in der Ehe gefragt wurde, sind andere Ergebnisse sichtbar. Danach nimmt die Familie einen Spitzenwert ein und auch der Zufriedenheitsgrad der eigenen Ehe hat zugenommen.

Wie ist nun der scheinbare Widerspruch zwischen steigenden Scheidungszahlen und steigender Zufriedenheit zu erklären? Nach Nave-Herz beruhen die Ehen durch einen Selektionseffekt heute weniger auf zwanghaften Kohäsionen, etwa durch arrangierte Ehen oder durch die ökonomische Abhängigkeit der Frau vom Ehepartner. Die Motivation der Liebesheirat ist heute weiterhin sehr verbreitet. Die steigenden Scheidungsquoten stellen also keinen Indikator für eine Krise der Familie dar. Vielmehr spiegeln diese die hohen Anforderungen und vielschichtigen Erwartungen an den Ehepartner oder die Ehepartnerin in etwas höheren Scheidungen wieder. Hinzu kommen weitere „Stressoren“, wie Arbeitslosigkeit o.ä., die keine Ursache für Scheidungen sind, diese aber verstärken können. Die Ehe als Institution werde also keinesfalls grundsätzlich in Frage gestellt.
Auch die Kinderlosigkeit müsse differenzierter betrachtet werden. Eine freiwillig bewusste Kinderlosigkeit, bei der gesagt wird, Kinder wärenen nicht attraktiv, sei selten. Dagegen sei eine befristete bewusst geplante Kinderlosigkeit verbreitet. Die Berufsorientierung von Frauen ist stark gestiegen, so dass der Kinderwunsch immer öfter verschoben wird. Auch eine biologistische Auffassung von einer traditionellen Mutterrolle divergiere konflikthaft mit der Orientierung auf den Beruf, die zu Verschiebungen des Kinderwunschs kommt. In Ländern mit weniger Mutterideologie, wie Frankreich, den Skandinavischen Ländern oder der DDR gibt es mehr Kinder. Hinzu kommen fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, die Beruf und Kind nicht vereinbaren lassen. Aus der befristeten Kinderlosigkeit wird aus diesen Gründen dann häufig eine nicht gewollte lebenslange Kinderlosigkeit.

Schließlich müssten auch die innerfamilialen Beziehungen und Veränderungen in den Blick genommen werden, da sich die Familienzyklen stark verändert haben. Während es in den 60er und 70er Jahren vorrangig noch pragmatische Gründe für eine Ehe gab (z.B. Eheschließung wegen Schwangerschaft), wird heute erst nach längerem Zusammenleben und Kinderwunsch die Ehe geschlossen. Durch die Selbstverständlichkeit heute schon vor der Ehe zusammen zu wohnen, ist die nicht-eheliche Lebensgemeinschaft keine Konkurrenz zur Ehe, so dass auch hier nicht auf eine Krise zu schließen ist. Während historisch gesehen die Heirat lange Zeit als „rite de passage“ galt, bei der der Übergangsritus und das Eintreten in eine neue Rolle öffentlich bekundet wurde, ist die Eheschließung heute eher ein „rite de confirmacion“, bei dem die Familiengründung später mit einer Ehe noch mal bestätigt wird.
Eine spätere Familiengründung und längere Lebenszeiten führen auch zu verlagerten Familienphasen. Während die eigentliche Familienphase (direkte Betreuung und Erziehung der Kinder) nur ein Viertel der gesamten Lebenszeit ausmacht, ist die „nachelterliche“ Phase länger geworden.


Nach dem Vortrag schloss sich eine angeregte Diskussion an. Dabei wurde bemerkt, dass die derzeitigen Diskussionen um Kinderlosigkeit immer nur an Frauen adressiert werden, so dass die Frage im Raum stand, wie der Diskurs auch auf Männer bezogen werden könne. Diskutiert wurden auch die Nachteile, die sich oft für Frauen bei einer Familiengründung ergeben können, und durch staatliche Maßnahmen minimiert werden sollten. An einem starken Anstieg der Zahl von Reproduktionszentren lasse sich auch erkennen, dass der Kinderwunsch existiert, jedoch die Rahmenbedingungen die Realisierung stark erschwerten.


Zur Person:

Prof. Dr. em. Rosemarie Nave-Herz ist eine der renommiertesten Familiensoziologinnen in Deutschland. Mit nur kurzen Unterbrechungen lehrte und forschte sie nahezu 36 Jahre bis zu Ihrer Emeritierung 2003 an der Universität in Oldenburg. Neben der Tätigkeit in fast 30 wissenschaftlichen Gremien und als Beraterin in der Politik ist sie auch durch zahlreiche Publikationen bekannt geworden:

Familie heute: Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2002.

Heirat ausgeschlossen? Ledige Erwachsene in sozialhistorischer und subjektiver Perspektive (in Zusammenarbeit mit D. Sander), Campus Verlag, Frankfurt/Main, 1998.

Frauen zwischen Tradition und Moderne, Kleine Verlag, Bielefeld, 1992.

Ein-Eltern-Familien. Eine empirische Studie zur Lebenssituation und Lebensplanung alleinerziehender Mütter und Väter (in Zusammenarbeit mit Dorothea Krüger), Kleine Verlag, Bielefeld, 1992.

Kinderlose Ehen - Eine empirische Studie über kinderlose Ehepaare und die Gründe für ihre Kinderlosigkeit, Juventa Verlag, Weinheim, 1988.

Handbuch der Familien- und Jugendforschung (hrsg. zusammen mit M. Markefka); Bd. I: Familienforschung; Bd. II: Jugendforschung, Neuwied: Luchterhand Verlag 1989.



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