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„Erkennen und Wahrnehmen von Diskriminierungen an den Schnittstellen Gender/“race“ und Migrationshintergrund / Behinderung“

Gender Lecture mit Judy Gummich und Christiane Howe am 23.11.2009 im Rahmen des Schwerpunktthemas „Risiken und Nebenwirkungen von Gleichstellungspolitik – Zur Herausforderung, Ungleichheiten nicht gegeneinander auszuspielen“


Judy Gummich und Christiane Howe beleuchteten in ihrer Gender Lecture zahlreiche Facetten von Diskriminierung und besonders die spezifischen Hindernisse beim Umgang mit Mehrfachdiskriminierung und Intersektionalität. Dazu zogen sie konkrete Beispiele und Ergebnisse aus ihren jeweiligen Arbeitsbereichen heran, und machten somit schon durch die Anlage ihres Vortrags klar, wie wichtig die Inklusion unterschiedlicher Perspektiven für die Beschäftigung mit Intersektionalität sind.

Gummich erläuterte eingangs Faktoren, die die Auseinandersetzung mit Mehrfachdiskriminierung oftmals erschweren. Die Kategorisierungen selbst sind schon ein Paradox: sie werden genutzt, um Dinge handhabbar zu machen, sind aber keineswegs so fest wie oft angenommen. Es geht weniger um Persönlichkeitsmerkmale als um Zuschreibungen. So wird oft vereinfacht und generalisiert, auch um beispielsweise als zivilgesellschaftliche Organisation Interessen besser kommunizieren und durchsetzen zu können – jedoch um den Preis, eigene „Teilgruppen“ nur als Störfaktor zu sehen, der die Einigkeit einer Organisation zerstöre. Organisationen und Interessenvertretungen grenzten sich oft gegenseitig ab, um ihre „Alleinstellungsmerkmale“ herauszustellen, wodurch Zusammenarbeit an gemeinsamen Zielen, die jedoch nicht im Spezifischen der jeweiligen Organisation liegen, schwierig wird. Die europäische Denktradition der Identitätslogik, des entweder-oder, erschwere die Organisation von Interessen, die sich nicht vereindeutigen und zu großen und starken Gruppen zusammenfassen lassen.

Diskriminierung kann auf verschiedene Arten mehrere Kategorien umfassen. Erstens können im Sinne der Mehrfachdiskriminierung mehrere Gründe additiv zur Diskriminierungserfahrung einer Person beitragen, dies kann auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten geschehen. Ein Beispiel wäre eine Frau, die einen Rollstuhl nutzt, und der eine Leitungsposition in einer Firma verwehrt wird – einmal aufgrund ihres Geschlechts, zu einem anderen Zeitpunkt aufgrund eines fehlenden Aufzugs. Zweitens können in einer Diskriminierung simultan Gründe zusammenwirken, die sich gegenseitig verstärken (compound discrimination). Wenn beispielsweise die Arbeitsmarktsituation für Frauen schlecht ist, und für Migrant_innen, verstärkt die gleichzeitige Zugehörigkeit zu beiden Gruppen die Diskriminierung in bestimmten Situationen. Drittens können sich Gründe überschneiden; dies ist im engeren Sinne mit intersektioneller Diskriminierung gemeint. Sie stellt eine eigene Diskriminierungserfahrung dar, bei der es unmöglich ist zu sagen, ob aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, einer Behinderung etc. diskriminiert wird. Die Erfahrungen sind so spezifisch, dass sie aus den etablierten einzelnen Kategorien herausfallen. Viertens können sich Gründe für Diskriminierung überlappen (overlapping discrimination). Sie wirken dann auch simultan, jedoch unabhängig voneinander. Ein Beispiel wäre eine Firma, die weder Menschen mit Migrationshintergrund noch mit Beeinträchtigung einstellt – im Einzelfall ist es dann schwierig nachzuweisen, aus welchem Grund nicht eingestellt wurde. Fünftens gibt es einen Trigger-Effekt - erst eine Kombination von Diskriminierungsmerkmalen löst Diskriminierung aus. Ein Beispiel wäre eine Wohnungsbesitzerin, die an eine Lesbe vermieten würde oder an eine Migrantin, sie aber beides zusammen ausschließt.

Weitere Facetten bei der Betrachtung von Diskriminierungen sind die Situationsbedingtheit und Kontextabhängigkeit von Diskriminierung. So fühlt sich ein afrikanischer Mensch erst Schwarz unter weißen. Auch die soziale Verortung, also der Grad an Anpassung oder offensichtlicher Differenz ist relevant. Persönlichkeitsmerkmale werden zudem hierarchisiert, abhängig vom Kontext und zu weiteren Merkmalen. Was Lebenserfahrungen und Lebensqualität prägt ist die Häufigkeit von Diskriminierung – widerfährt sie jemandem einmal im Leben oder tagtäglich? Mit Folge- oder kumulativer Diskriminierung wird bezeichnet, wenn eine Diskriminierung (z.B. im Bildungssystem) zu weiteren Diskriminierungen (z.B. auf dem Arbeitsmarkt) führt. Zusammenfassend kann eine intersektionelle Diskriminierung im weiteren Sinne verstanden werden als simultan, auf sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren basierend, in einer Kombination von unterschiedlichen Facetten und verortet in einem historischen, politischen, sozialen und kulturellen Kontext. Dies führt zur Entstehung einer eigenen, spezifischen Diskriminierungserfahrung der Betroffenen.

Visualisieren lässt sich dieses Verständnis von Intersektionalität beispielsweise mit ineinander fließenden Farben mit unterschiedlicher Zähigkeit und unterschiedlicher Fließrichtung, die sich teilweise verbinden. Der kontextabhängige Blick entspräche unterschiedlichen Farbfiltern, und eine Momentaufnahme verdeutlichte die Situationsabhängigkeit.

Anschließend beleuchtete Christiane Howe knapp die Diskussion um Diskriminierung in Deutschland. Besonders im Kontext der Entstehung des AGG wurde deutlich, dass das Thema sehr stark emotional geladen ist. Es sei eine starke Abwehr festzustellen, sich mit Diskriminierung zu beschäftigen, oder sie überhaupt als relevantes Phänomen zu akzeptieren. Meist werde Diskriminierung nur eingeschränkt verstanden als absichtsvolles Verhalten, woran immer direkt eine Schuldfrage geknüpft sei. Niemand wolle damit in Berührung kommen – möglicherweise weil gerade in Deutschland durch den Hintergrund des Nationalsozialismus der Hinweis auf Diskriminierung besonders beunruhigend wirke. Diskriminierung werde in den klar umgrenzten Bereich des Rechtsextremismus abgeschoben, und ansonsten jedoch dethematisiert.

Über die Lebenswirklichkeiten an den sehr vielfältigen „Schnittstellen“ von Migrationshintergrund und Beeinträchtigung sprach dann Judy Gummich. Sowohl im Kontext von beispielsweise Tagungen über Rassismus wie auch Tagungen über Behinderung würde häufig mit Erstaunen oder Verunsicherung reagiert, wenn diese Erfahrungen und spezifischen Lebenslagen thematisiert würden. Auch die Unterstützungssysteme wie Beratungsstellen sind oft nicht darauf eingestellt, so dass sich beispielsweise Schwarze Menschen mit Beeinträchtigungen in beiden Kontexten nicht aufgehoben fühlen und fernbleiben. Dadurch werden sie weiter unsichtbar. Je nach Herkunft sind bestimmte Unterstützungsleistungen unbekannt oder haben eine unterschiedliche Bedeutung – es gebe unterschiedliche Leitbilder zwischen gegenseitiger Unterstützung und individueller Unabhängigkeit. Zudem kann der Kontakt zu staatlichen Stellen auch aufgrund beispielsweise rassistischer Erfahrungen mit Ausländerbehörden eine fernliegende Option sein. Teils gebe es Konflikte zwischen unterschiedlich unterstützenden Behörden. Zudem könne der Aufenthaltsstatus einer gesamten Familie vom Zustand des beeinträchtigten Kindes abhängen. Besonders bei einer Duldung sei nur Akut-Versorgung gewährleistet, und bei illegalem Aufenthaltsstatus ist die Versorgung vollkommen prekär. Die Erfahrungen mit Rassismus können zu psychischen Problemen führen, die eine Therapie erforderlich machen. Allerdings stehen dann meist nur weiße Therapeut_innen zur Verfügung, durch die die Patient_innen oft mit den gleichen Klischees konfrontiert werden, die die Therapie nötig machten. Auch das Geschlecht von Kindern mit Beeinträchtigung lässt Eltern manchmal zu unterschiedlichen Bewältigungsstrategien (wie z.B. Therapien) greifen. Um angemessene Unterstützungen anbieten zu können, muss das Wissen über diese Lebenswirklichkeiten und Zugangsbarrieren auch durch Sprache, wie Mediziner- und Behördendeutsch oder teils subtile verbale Diskriminierung, verbreitet werden. In seiner Beratungsarbeit versucht der Verein „Eltern beraten Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung” Barrieren dadurch abzubauen, dass zu Beratungen Familien in ähnlichen Situationen hinzugezogen werden.

Christiane Howe berichtete vom Forschungsprojekt genderace, in dem Hochschulen aus sechs europäischen Ländern kooperieren. Sie untersuchten die jeweilige Umsetzung der europäischen Anti-Diskriminierungsrichtlinien hinsichtlich ethnischer/rassistischer und geschlechtsspezifischer Diskriminierung. Vom deutschen Teilprojekt an der TU Berlin wurden bislang Interviews mit Betroffenen sowie Expert_innen aus Antidiskriminierungs- und Beratungsstellen, der Deutschen Industrie- und Handelskammer, dem Deutschen Gewerkschaftsbund sowie Anwältinnen durchgeführt. Das Expert_innenwissen ist Teil des Feldes, das den Forschungsgegenstand ausmacht und für das Handlungsempfehlungen erarbeitet werden sollen. Die Interviews werden inhaltsanalytisch ausgewertet, wobei auch die Forschungssituation reflektiert wird. Dadurch kann das implizite Wissen herausgearbeitet werden, die impliziten Werthaltungen sowie auch die Auslassungen und Vermeidungen. Erste Ergebnisse zeigen bislang eine große Kluft zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung, sowie politischen Verlautbarungen und dem konkreten Handlung und den Ausstattungen der Antidiskriminierungsstellen. Diskriminierung zu erkennen, zu benennen und etwas dagegen zu tun verlangt von den Betroffenen viele Ressourcen und viel Mut. Zusätzlich wird dies erschwert durch die Dethematisierung von Diskriminierung und Rassismus in Deutschland. Notwendig sind deshalb eine bessere Ausstattung der Antidiskriminierungsstellen, konkrete Unterstützungsleistungen insbesondere bei rechtlichen Verfahren, sowie Informationen und Aufklärung sowohl der Mehrheitsgesellschaft als auch der Betroffenen. Ziel müsste es sein, aus der Unsichtbarkeit herauszukommen, einer Politik des „blaming the victim“ und letztlich der Tabuisierung von Diskriminierungen in ihrer Vielfalt entgegenzutreten.


Anschließend wurde diskutiert, aus welchen Gründe Diskriminierung dethematisiert ist. Dies hänge zum einen mit dem Selbstbild der Gesellschaft zusammen, in dem das heutige Deutschland einen Hüter der Menschenrechte darstelle. Zudem werde vieles individualisiert – oder eben auf stereotype Gruppenvorstellungen rekurriert. Wichtig sei auf jeden Fall wegzukommen von einem Fokus auf Schuld, hin zu einem Fokus auf Mechanismen von Diskriminierung. Auch über die sprachliche Benennung von Kategorien wurde diskutiert, die besonders im Fall von „race“/“Rasse“ augenfällig ist. So wurde herausgestellt, dass die entsprechenden Begriffe in Deutschland, aber auch in Frankreich, Bulgarien und Spanien, primär in einer biologistischen Tradition stehen, während im Englischen aufgrund der Bürgerrechtsbewegung die soziale und politische Komponente im Vordergrund steht.

Zu den Vortragenden

Judy Gummich arbeitet als sozialwissenschaftliche Mitarbeiterin beim Verein „Eltern beraten Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung”, besonders zum Bereich Migration und Beeinträchtigung. Sie arbeitet zudem mit an der ersten quantitative Studie zu Gewaltbetroffenheit und Mehrfachdiskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und transidenten Menschen bei „LesMigraS - Lesbische Migrantinnen und Schwarze Lesben”

in der Lesbenberatung Berlin.

 

Christiane Howe arbeitet am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin im europäischen Forschungsprojekt „genderace”

, in dem sechs Universitäten kooperieren und Antidiskriminierungsgesetze evaluieren. Sie arbeitete lange bei verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Menschenrechtsbereich. Sie war an zwei Schattenberichten zur CEDAW-Konvention beteiligt, und hat zu Arbeitsmigration und Frauenhandel, sowie zu Kunden von Prostitutierten geforscht und veröffentlicht, u.a. eine vom BMFSFJ geförderte Studie zu Freiern.

 

PD / SeSch
erstellt von Administrator zuletzt verändert: 10.08.2010 09:58