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„Work-Life-Balance statt Vereinbarkeit? Diskursive Verschiebungen und veränderte Problemlagen“

Gender Lecture mit Frau Prof. Dr. Mechthild Oechsle am 27. November 2006 zum Rahmenthema „Familie und Gleichstellung – Einheit oder Widerspruch?“:

In ihrem Vortrag befasste sich Frau Prof. Dr. Oechsle zunächst mit der Frage, welche Aspekte und Dimensionen der Begriff Work-Life-Balance (WLB) beinhalte. Sie sieht WLB als schillernden Begriff, der eine komplexe Gemengelage von Problemen, Diskursen und Praktiken im Spannungsfeld von Erwerbsarbeit und Privatleben sowie darauf bezogene Versuche der wissenschaftlichen Analyse beschreibe. Die Referentin betonte die Notwendigkeit einer genaueren Unterscheidung der verschiedenen Dimensionen des Begriffs WLB. Schließlich sei dieser Begriff inzwischen in aller Munde, erfreue sich wachsender Popularität und übertreffe bei einer Suche in Google die Trefferhäufigkeit von „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ um ein Vielfaches.

Auf normativer Ebene formuliere WLB die Vorstellung eines gelungenen Lebens mit einer Balance der verschiedenen Lebensbereiche; auf der Handlungsebene beschreibe der Begriff, was Menschen tun und wie sie handeln, um eine Balance von Arbeit und Leben herzustellen. Auf der Ebene von Organisationen bezeichne WLB betriebliche Praktiken und Maßnahmen zur Sicherung der WLB der Beschäftigten und auf wissenschaftlicher Ebene würden unter dem Begriff der WLB verschiedene theoretische und empirische Zugänge zur Analyse dieser verschiedenen Ebenen von WLB gefasst.

Im Anschluss an diese erste begriffliche Annäherung skizzierte Frau Prof. Dr. Mechtild Oechsle die diskursiven Verschiebungen vom Konzept der Vereinbarkeit zu jenem der Work-Life-Balance und analysierte die damit verbundenen veränderten Problemlagen. Wesentliche Differenzen zwischen beiden Konzepten sieht die Referentin bei folgenden Punkten:
  1. Anders als beim Konzept der Vereinbarkeit ist nicht mehr Familie der Gegenpol zur Arbeit, sondern das „Leben“. Damit sei WLB das zwar vagere, aber auch offenere Konzept, da Leben nicht nur Familie meine, sondern auch Lebensbereiche wie Partnerschaft, Körper und Gesundheit, Freizeit und Hobbys und weitere Lebensbereiche umfasse. Aktuelle Differenzierungen in den Lebensformen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforderungen könnten damit besser als mit dem Konzept der Vereinbarkeit von Beruf und Familie aufgegriffen werden.
  2. Anders als das Vereinbarkeitskonzept nimmt das zur Zeit geschlechtsneutral formulierte WLB-Konzept nicht nur Frauen als Zielgruppe in den Blick. Somit könnte es die Chance bieten, die Balance zwischen verschiedenen Lebensbereichen nicht mehr nur als „Problem“ von Frauen anzusehen. Allerdings sei zu bedenken, dass die Thematisierung unbezahlter Arbeit im WLB-Konzept unterbelichtet sei.
  3. Anders als der Begriff Vereinbarkeit, der stärker auf das individuelle Handeln fokussiert war, impliziert das WLB-Konzept auch eine Organisationsperspektive. Damit wird WLB zu einem Thema, das auch Wirtschaft und Unternehmen betrifft. Der private Lebensbereich wird nicht länger externalisiert und die Gestaltung der Beziehung zwischen Organisation und privater Lebensführung auch als Problem von Organisationen definiert. Die Thematisierung des Privaten im Organisationskontext ist – wie auch in der Diskussion nochmals angemerkt – ambivalent zu bewerten: Auf der einen Seite eröffnet sie Chancen bezüglich der Anerkennung von Subjektivität und die Trennung von Privatem und Öffentlichem wird relativiert, auf der anderen Seite kann dies auch einen stärkeren Zugriff von Unternehmensseite auf das private Leben bedeuten.
  4. Damit wird WLB stärker als Vereinbarkeit ökonomisch gerahmt und das Problem der Balance von Arbeit und Leben auch als ein Ressourcenproblem von Organisationen reformuliert. Die Referentin zog hier Parallelen zu einem ähnlich gelagerten Paradigmenwechsel von der Gleichstellung zu Diversity. Auch hier sieht sie Tendenzen, die Unterrepräsentanz von Frauen von einem Gerechtigkeits- zu einem Ressourcenproblem umzuformulieren und damit zu einem organisationsinternen Problem zu machen. Diversity wie WLB können in diesem Kontext durchaus als Instrumente einer besseren Marktanpassung interpretiert werden und werden als solche auch entsprechend propagiert. Damit ist das Spannungsfeld angedeutet, in dem sich die Einführung von WLB-Maßnahmen heute vollzieht.
Die aktuelle Popularität des WLB-Konzeptes verweist laut Frau Prof. Dr. Oechsle auch auf neue Problemlagen. Die Entgrenzung von Arbeit fordert mehr eigenverantwortliche Strukturierung von Zeit. Flexible und verlängerte Arbeitszeiten erhöhen den Zeitdruck und die Zeitnot. Durch den demographischen Wandel entsteht mit der Pflege älterer Angehöriger ein neues Vereinbarkeitsproblem, das zu dem der Kinderbetreuung hinzukommt. Auf betrieblicher Ebene zeichnet sich ein Mangel an Fach- und Führungskräften ab, der zu einem verstärkten Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte führt. Auch die veränderten Wünsche von Männern an Privatleben und aktive Vaterschaft machen neue Perspektiven erforderlich. Und auf gesellschaftlicher Ebene fordert der demographische Wandel eine stärkere Berücksichtung von Fragen privater Lebensführung.

In einem dritten Teil ihres Vortrags befasste sich Frau Prof. Dr. Oechsle mit der Praxis von WLB in den Betrieben und den Hindernissen für eine breitere Umsetzung dieser Konzepte. Die Bandbreite von WLB-Maßnahmen reicht von flexiblen Arbeitszeiten, Telearbeit, Kinder- und Angehörigenbetreuung, Beratungsangeboten und Angeboten während der Elternzeit bis hin zu Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsprävention. Die Referentin wies aber darauf hin, dass flexible Arbeitszeiten noch kein Garant für die Balance von Arbeit und Leben seien und dass es durchaus Interessendifferenzen zwischen Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberinnen und Arbeitsnehmern bzw. Arbeitnehmerinnen bei der Definition familienfreundlicher Arbeitszeiten gäbe. Nach den Prognos-Studien von 2003 und 2005 würden sich solche Maßnahmen sowohl betriebswirtschaftlich wie volkswirtschaftlich rechnen. Neben gesteigerter Produktivität, einer erhöhten Mitarbeiterbindung, der Verringerung von Fehlzeiten durch ein Bündel von WLB-Maßnahmen wäre laut Oechsle auch mit einem positiven Image nach außen zu rechnen. Leider gebe es große Implementierungsprobleme, weil der konkrete Bedarf der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen von den Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen nicht wahrgenommen würde und vorhandene Angebote zu wenig genutzt würden, auch weil sie im Widerspruch zu der vorhandenen Unternehmenskultur (Leitbild langer Präsenz, Führungskräfte nehmen Maßnahmen nicht in Anspruch) stehen. Auch ein kurzfristiges Kosten-Nutzen-Denken der Betriebe verhindere oft die breitere Einführung von WLB-Angeboten.

Die wissenschaftliche Kontroverse um die Bewertung von WLB-Konzepten aufnehmend, ging die Referentin am Ende ihres Vortrags auf die Ambivalenzen des WLB-Konzeptes ein. Die verstärkte Propagierung von WLB als Element betrieblicher Personalpolitik verweist ihrer Meinung nach auf eine veränderte betriebliche Nutzung des Arbeitsvermögens - dieses ist umfassender geworden, gefragt ist die ganze Person mit ihrem subjektiven Potential. WLB-Konzepte können in diesem Kontext als ‚human resource management’ interpretiert werden, als Strategie zur effektiveren Nutzung des Arbeitsvermögens und zugleich als Versuch, die Folgen einer solch intensivierten Inanspruchnahme abzufedern (vgl. Jurczyk 2005). Allerdings hilft ein genereller Ideologieverdacht gegenüber WLB-Konzepten ebenso wenig weiter wie eine unkritische Beschwörung einer Win-Win-Situation, so die Referentin. Wichtig wäre eine differenzierte Analyse der mit diesem Konzept verbundenen Chancen, aber auch der Risiken und Beschränkungen.

In der folgenden Diskussion wurden die Gründe für den Widerstand in Unternehmen und für die Zurückhaltung der Beschäftigten gegenüber WLB-Konzepten noch einmal kontrovers diskutiert. Eine Ursache dafür wurde in traditionellen Männlichkeitsbildern verortet, die dazu führten, dass Männer ungeachtet ihrer Bedürfnisse konkrete WLB-Angebote aus Angst, als nicht karrierebewusst zu gelten, nicht nutzen. Des Weiteren wurde deutlich, dass die Gewerkschaften WLB mehr als bisher als Handlungsfeld für tarifliche und betriebliche Gewerkschaftspolitik besetzen sollten. Potenzielle Bündnispartner für die Durchsetzung von WLB sah das Plenum aber nicht nur in den Betriebsräten, sondern auch in Frauen in Machtpositionen. Kritisch wurde auch diskutiert, dass sich WLB-Angebote häufig an High Potentials richten, während andere Arbeitsnehmergruppen als Zielgruppe für WLB weniger in den Blick kommen.

Zur Vortragenden:

Prof. Dr. Mechthild Oechsle ist seit 1994 Professorin für „Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Berufsorientierung und Arbeitswelt/Geschlechterverhältnisse“ an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seit 2004 ist sie Studiendekanin an der genannten Fakultät. Frau Prof. Dr. Oechsle studierte zwischen 1970 und 1975 sowie zwischen 1978 und 1981 Germanistik, Politikwissenschaften und Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Vor ihrer Promotion 1986 in Gießen war sie von 1981 bis 1986 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Bremen in verschiedenen arbeits- und jugendsoziologischen Forschungsprojekten, zuletzt im Sonderforschungsbereich 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebenslauf“ (1988-1991), wo sie zusammen mit Birgit Geissler eine Studie über die „Lebensplanung junger Frauen“ durchgeführt hat. 1992 war Frau Prof. Dr. Oechsle Habilitationsstipendiatin im Graduiertenkolleg „Geschlechterverhältnis und sozialer Wandel“ der Universitäten Bielefeld, Bochum und Dortmund, an dem sie sich zwischen 1996 und 1999 auch als Hochschullehrerin beteiligte. Zu den Arbeitsschwerpunkten von Frau Prof. Dr. Oechsle zählen der soziale Wandel und die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse, Lebensplanung von Frauen, Lebensführung und Zeit sowie Profession, Organisation und Geschlecht. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit dem Übergang Schule/Hochschule und Arbeitswelt und mit der Berufsorientierung und den Berufsverläufen von Sozialwissenschaftlern und Sozialwissenschaftlerinnen.

Ausgewählte Publikationen von Prof. Dr. Mechthild Oechsle zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie und WLB:


Oechsle, Mechtild: Work-Life-Balance, in: Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Geschlecht und Gesellschaft Band 35, Wiesbaden 2007 (im Erscheinen).

Jurczyk, Karin; Oechsle, Mechtild (Hg.) Das Private neu denken: Erosionen, Ambivalenze, Leistungen, Münster 2007 (erscheint im Herbst 2007).

Oechsle, Mechtild: Deutschland in der Zeitfalle? Zur Rezeption von Arlie Russel Hochschild "Keine Zeit" in Deutschland. Vorwort zur 2. Auflage von Arlie Russel Hochschild: Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Wiesbaden 2006.

Mischau, Anina; Oechsle, Mechtild (Hg.): Arbeitszeit - Familienzeit - Lebenszeit: Verlieren wir die Balance? Schwerpunktheft 5, Zeitschrift für Familienforschung, Wiesbaden 2005.

Oechsle, Mechtild: Keine Zeit. Ein Blick in die Innenwelt amerikanischer Familien. Rezension zu Arlie Russel Hochschild "Keine Zeit", in: Zeitschrift für Familienforschung, 15.Jg. (2003), H.3, S.321-328.

Oechsle, Mechtild; Geissler, Birgit: Between Paid Work and Private Commitments: Women`s Perception of Time and Life Planning in Young Adulthood, in: Time & Society, 12(1) (2003), S. 79-98.

Oechsle, Mechtild; Geissler, Birgit (Hg.): Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis, Opladen 1998.

Geissler, Birgit; Oechsle, Mechtild: Lebensplanung junger Frauen. Zur widersprüchlichen Modernisierung weiblicher Lebensläufe, Weinheim 1996.
erstellt von Administrator zuletzt verändert: 09.08.2010 17:12