Sie sind hier: Startseite Veranstaltungs-, Publikations- und News Archiv Gender Lectures „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Der Siebte Familienbericht“

„Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Der Siebte Familienbericht“

Gender Lecture mit Prof. Dr. Hans Bertram am 23. Oktober 2006 zum Rahmenthema „Familie und Gleichstellung – Einheit oder Widerspruch?“:

Unter dem Titel „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit“ stellte Prof. Dr. Hans Bertram am 23. Oktober 2006 im Rahmen der Gender Lectures des GenderKompetenzZentrums an der Humboldt-Universität zu Berlin Ergebnisse und Empfehlungen des gleichnamigen Siebten Familienberichts der Bundesregierung vor.

Der Siebte Familienbericht stellt auf breiter empirischer Grundlage die aktuelle Situation von Familien in Deutschland dar, vergleicht diese mit den Entwicklungen in anderen europäischen Staaten und erarbeitet Vorschläge für eine innovative Familienpolitik. Dabei konzentrierte sich die Sachverständigenkommission des Siebten Familienberichts in diesem Bericht vor allem auf die Balance von Familien- und Arbeitswelt im Lebenslauf. So gestalte sich die Balance zwischen Bildungs- und Berufsverläufen auf der einen Seite und der Entwicklung von Familienbeziehungen im Lebenslauf auf der anderen Seite zunehmend als Herausforderung. Neue Konzepte der Verknüpfung von privaten Lebensentwürfen und Tätigkeiten im Bereich von „care“ einerseits und von erweiterten Anforderungen durch Bildung, berufliche Karrieren und alltägliche Arbeitszeit andererseits müssten durch familienbezogene Maßnahmen unterstützt werden. In seinem Vortrag fasste Prof. Dr. Bertram die wichtigsten Ergebnisse des Berichts zusammen und erläuterte das Modell der aktuellen Familienpolitik. Dieses Modell besteht aus drei Bausteinen, die unmittelbar aufeinander verweisen und erst in ihrem Dreiklang eine zukunftsfähige Familienpolitik ermöglichen: Nur mit einem Policy-Mix, der auf „Zeit“, „Geld“ und „Infrastruktur“ für Familien ziele, könne auf den sich gegenwärtig vollziehenden Wandel von Familien angemessen reagiert werden.

Im Rahmen der Gender Lectures legte Prof. Dr. Bertram den Schwerpunkt des Vortrags auf den Geschlechteraspekt und damit auf die Gleichstellungsrelevanz aktueller und zukünftiger Familienpolitik. Insbesondere durch den Wandel von Geschlechterrollen in der Gesellschaft und durch die veränderten ökonomischen Strukturen im Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft sei es nicht mehr angemessen, an traditionellen Familienbildern festzuhalten. Familienmodelle, die Männern die Ernährerrolle zuweisen und Frauen auf den Bereich der Familien- und Hausarbeit festschrieben, entsprächen nicht mehr der Pluralität heutiger Familien- und Lebensformen und dem Versprechen von „echter Wahlfreiheit“. Zugleich sei es ebenfalls nicht wünschenswert, „care“ vollständig zu institutionalisieren. Die gesellschaftlich notwendige Arbeit müsse dementsprechend jenseits von tradierten Geschlechterrollen organisiert werden. So dürften auch Forderungen nach einer familienfreundlichen Arbeitswelt nicht als „Frauenthema“ problematisiert werden.
Nicht zuletzt sei es aus einer ökonomischen Perspektive erforderlich, ein neues Familienmodell politisch zu befördern. Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland, in der sich eine Transformation von einer Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft vollzogen hat, die aus vielen Gründen die klassische Form der innerfamilialen Arbeitsteilung kaum noch zulässt.

Insgesamt machen die Befunde deutlich, dass der Erwerbs- wie der Familienzyklus von Frauen und Männern variabler und flexibler geworden ist. Durch den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und die damit einhergehenden neuen Risiken und diskontinuierlichen Erwerbsbiografien – zunehmend auch für den traditionellen „männlichen Familienernährer“ – destabilisieren sich klassische Muster für Erwerb und Familiengründung. Zudem seien Mutter- und Frauenrolle keine notwendige Verbindung mehr, da Mutterschaft angesichts steigender Lebenserwartung und sinkender Reproduktionszeit heute nur noch eine kurze Phase im Lebenslauf darstelle. Empirisch zeigen sich dabei durchaus große Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern: So habe sich beispielsweise in Dänemark und Finnland im Unterschied zu Deutschland die Reproduktionsphase von Frauen deutlich nach hinten verschoben. Des Weiteren bekommen Frauen in Dänemark und Finnland ihre Kinder durchschnittlich in einem größeren Abstand, was einerseits die Reproduktionsphase verlängert, andererseits aber auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtert. Laut Prof. Dr. Bertram kann eine zeitliche Entzerrung von Erwerbs- und Lebenszyklus in Kombination mit der Umsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern dazu beitragen, dass eine Teilhabe an Erwerbstätigkeit und an „care“ für Frauen und Männer gleichermaßen möglich wird.
„Care“ meint dabei ein Konzept der Verantwortung, Pflege und Fürsorge, das als gleichgewichtiger Teil des Lebens neben dem Erwerbsleben besteht. Dabei umfasst „care“ nicht nur die Sorge um Kinder, sondern mehr und mehr auch um ältere Menschen. Als Beispiel für eine gelungene Umsetzung dieses Ansatzes stellte Prof. Dr. Bertram das niederländische Modell vor: Dort gebe es beispielsweise ein geschlechterneutrales Arbeitskontenmodell, mit dem Arbeitszeit im Lebenslauf angespart werden könne, um diese für „care“, Weiterbildung etc. zu nutzen. In Deutschland wird das neue Elterngeld von der Sachverständigenkommission als ein Weg in die richtige Richtung begrüßt, um eine rasche Re-Integration von Fürsorgenden in das Erwerbsleben und eine Minderung des Einkommensverlustes in Betreuungsphasen zu gewährleisten. Als positiver Neuansatz wird im Familienbericht auch gesehen, dass „care“, ein traditionell weiblich konnotierter Bereich, in Zukunft unabhängig von der Geschlechterrolle zu gestalten ist; Fürsorge wird dementsprechend von der weiblichen Rolle entkoppelt. Vor diesem Hintergrund macht der Familienbericht laut Bertram auch deutlich, dass Familienpolitik grundsätzlich immer auch als Gleichstellungspolitik begriffen werden muss.

Als weiteren Aspekt sprach Prof. Dr. Bertram die Zeitorganisation im Alltag an, die bei Frauen und Männern in Deutschland sehr unterschiedlich ist. Seiner Meinung nach ist eine Gleichheit der Geschlechter in diesem Punkt nur durch Gleichstellung im Erwerbsleben erreichbar, da die Zeitverteilung von (Erwerbs-) Arbeit starke Auswirkungen auf die Vereinbarkeitsproblematik hat. Zudem wirkt die Erwerbsarbeitszeit insgesamt zunehmend in die Privatzeit hinein. In der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und der Veränderung von Zeitstrukturen sieht Prof. Dr. Bertram zentrale Aufgaben für die Gewerkschaften: Neue Zeitmodelle müssten eine Neuorganisation des Lebenslaufs und der Alltagszeit beinhalten sowie hoch individualisiert sein. Als Beispiel für die hohe Komplexität von Vereinbarkeits- und Zeitmodellen erwähnte er die T-Com, die zur Zeit schon mit 85 verschiedenen Modellen arbeitet.

Zuletzt ging Prof. Dr. Bertram auf den Aspekt der Infrastruktur für Familien ein. Der Siebte Familienbericht komme zu dem Ergebnis, dass verschiedene Ansätze erprobt werden müssten und letztlich eine Kombination aus professionellen Angeboten und freiwilligem Engagement anzustreben sei. Als Finanzierungsmöglichkeiten werden sowohl eine Familienkasse als auch ein Voucher-System vorgeschlagen. Im Zusammenhang mit der Infrastruktur thematisierte Prof. Dr. Bertram auch die zunehmende Armut in Familien. So häuft sich Armut z.B. durch eine Entmischung von ethnischen Gruppen (u.a. durch unterschiedliche Fertilitätsraten) oft in einzelnen Gebieten besonders. Seiner Meinung nach sollte bei der Suche nach Gegenstrategien Armut begrifflich und inhaltlich möglichst eng bestimmt werden, um so eine genauere Definition und Sichtbarmachung von Problemgebieten und damit auch eine gezielte Förderung von Familien zu ermöglichen.

Insgesamt macht der Siebte Familienbericht deutlich, dass Veränderungen in den Lebensläufen, in den Zeitstrukturen der Arbeitswelt und die Ausdifferenzierung der Lebensformen und -umwelten von Familien gesellschaftliche und politische Reaktionen erforderlich machen. Dabei geht es insbesondere um Reaktionen, die eine neue Balance zwischen den Familienmitgliedern, familiären Lebensformen, Nachbarschaften, der Arbeitswelt und der Gesellschaft ermöglichen. Hierfür ist es unter anderem notwendig, sich von dem traditionellen Modell der isolierten Kernfamilie mit einer klaren geschlechtlichen Arbeitsteilung zu lösen. Insgesamt müssten gesellschaftliche und betriebliche Institutionen sich an die Zeit- und Infrastruktur-Bedürfnisse von Familien anpassen und nicht umgekehrt.
Sein Hauptergebnis nennt der Siebte Familienbericht jedoch laut Prof. Dr. Bertram bereits im Titel: „Flexibilität und Verlässlichkeit“. So benötigten Familien vordringlich Flexibilität und Verlässlichkeit, insbesondere hinsichtlich der drei Dimensionen Zeit, Geld und Infrastruktur.

In der sich anschließenden Diskussion wurden die Ansätze und Ergebnisse des Siebten Familienberichts durchweg als sehr interessant und wichtig bewertet. Nachfragen kamen unter anderem zum Thema Elterngeld und zu den Wirkungen von gesellschaftlichen Normen und Werten auf das präsentierte Modell von Familienpolitik. Prof. Dr. Bertram machte darauf aufmerksam, dass das Modell sicherlich durch bestehende Werte beeinflusst wird, zugleich aber durch den massiven gesellschaftlichen Umbruch auch neue Werte entstehen. Des Weiteren erläuterte Prof. Dr. Bertram noch einmal Aspekte, die eine Mutterschaft in jüngeren Jahren für Frauen und Familien attraktiver machen würden. Ein weiteres Diskussionsthema stellte die (Alltags-)Zeitorganisation dar, die ein wesentliches Element des skizzierten familienpolitischen Modells ist. Zu diesem Aspekt wies Prof. Dr. Bertram unter anderen auf die auf verschiedenen Ebenen neu entstandenen Allianzen und Bündnisse für Familien hin.


Zum Vortragenden:

Prof. Dr. Hans Bertram ist Leiter des Lehrbereichs Mikrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Familie, Sozialer Wandel, Bildung und soziale Netze.
Prof. Dr. Bertram studierte Soziologie, Psychologie und Jura in Münster und Mannheim. Nach seiner Promotion zum Dr. phil. habilitierte er sich 1980 an der Universität Heidelberg.
Von 1984 bis 1993 war er Vorstand und Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Jugendinstituts e.V. München. Von 1986 bis 1989 erarbeitete Prof. Dr. Bertram als Mitglied der Kommission den Achten Jugendbericht für den Deutschen Bundestag. 2003 übernahm er den Vorsitz der Siebten Familienberichtskommission des Deutschen Bundestages, die Mitte 2005 ihren Bericht vorlegte. Derzeit hat Prof. Dr. Bertram den Vorsitz des Landesbeirates für Familienpolitik des Landes Brandenburg inne und wirkt in einer Enquete-Kommission in Sachsen, in der Bosch-Stiftung sowie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Publikationen:


Eine ausführliche Publikationsliste von Prof. Dr. Betram finden Sie auf seiner Homepage.

erstellt von Administrator zuletzt verändert: 09.08.2010 17:19