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"Spielt das Geschlecht (k)eine Rolle im Schulalltag?"

Gender Lecture mit Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland:


Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Gender Lectures“ des GenderKompetenzZentrums an der Humboldt-Universität zu Berlin ging Prof. Dr. Faulstich-Wieland der Frage nach, ob und welche Bedeutung Geschlecht im Bildungssystem hat und welche Ungleichheiten bestehen. Weiterhin thematisierte sie existierende Maßnahmen zur Realisierung geschlechtergerechter Schulen und stellte die Frage, ob die Dramatisierung von Geschlecht tatsächlich der richtige Weg für eine Veränderung der Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem ist. Abschließend plädierte Faulstich-Wieland  für eine Entdramatisierung von Geschlecht.

 

Trotz einer Bildungsexpansion in der BRD seit Mitte der 1960er Jahre, die vor allem zugunsten von Frauen ausgefallen ist, sind immer noch Ungleichheiten im heutigen Bildungssystem zu verzeichnen. Bspw. fallen Fachwahlen in Schulen und Universitäten zwischen den Geschlechtern sehr unterschiedlich aus, die auf Interessens- und Leistungsunterschiede seit der Grundschule zurückzuführen sind. Nach Faulstich-Wieland gilt es, diese Geschlechterdifferenzen zu verändern, um eine bestmögliche Förderung nach erwünschten Qualitätskriterien des Bildungssystems im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit zu sichern.

Es stellt sich die Frage, ob bestehende Ansätze und Maßnahmen von Schulprogrammen Geschlechterungleichheiten entgegenwirken können. Um dies zu beantworten, müssen die zugrunde gelegten Gendertheorien analysiert werden. Bei den meisten Maßnahmen für eine geschlechterbewusste Arbeit handelt es sich um die Realisierung von geschlechtergetrennten Angeboten, wie z.B. im Informatikbereich, bei Berufswahlkursen oder im Sexualkundeunterricht, die oftmals mit „grundlegenden Differenzen zwischen den Geschlechtern“ begründet werden. Problematisch wird diese besondere Hervorhebung und Dramatisierung von Differenz, wenn eine Dichotomisierung von den Mädchen und den Jungen einhergeht. Nach Faulstich-Wieland finden aber deutliche Überschneidungen zwischen den Gruppen der Mädchen und Jungen statt, so dass dieser „geschlechtsspezifische“ Unterricht zu einer Verfestigung von Stereotypen

und Hierarchien führen kann, anstatt diese abzubauen.

Ansatzpunkte für erfolgreiche Veränderungen der Geschlechterverhältnisse können durch die Gendertheorie des „Doing gender“ erarbeitet werden. Dieser Ansatz verweist auf die soziale Konstruktion von Geschlecht, d.h. dass nicht biologische oder natürliche Anlagen das Verhalten steuern, sondern das kulturelle und soziale Umfeld Verhalten und Interaktionen prägen. Unter Verweis auf Hirschauer hält Faulstich-Wieland folgende Basisannahmen fest, die ein Verständnis von Geschlecht als sozialer Konstruktion erschweren:

  • Konstanzannahme: die Geschlechtszugehörigkeit einer Person sei lebenslang gültig und wechselt nicht;
  • Annahme der Naturhaftigkeit von Geschlecht;
  • Annahme der Dichotomizität: es gäbe nur die polare Zugehörigkeit von männlich oder weiblich.

Geschlecht wird tatsächlich im alltäglichen Handeln und in Interaktionen durch Basisannahmen und Zuschreibungen immer wieder hergestellt und durch die sogenannte „institutionelle Reflexivität“ untermauert und verfestigt. Gemeint sind etablierte Regeln und Strukturen, die zu einer Dramatisierung von Differenz führen, bspw. wenn sich Kinder im Schulalltag nach Geschlecht aufreihen müssen. Die gesellschaftliche Gemachtheit und die soziale Konstruktion von Geschlecht im Sinne des „Doing gender“ zeigt deutlich, dass jede und jeder aktiv zur Herstellung von Geschlecht beiträgt und diese reproduziert, und dass Geschlecht allgegenwärtig sein kann. Wenn der komplexe Zusammenhang von individuellem Verhalten, sozialen Interaktionen und institutionell-organisatorischen Maßnahmen in der Schulentwicklung nicht verstanden wird, kann Geschlechtergerechtigkeit nicht erreicht werden. Die Dramatisierung von Geschlecht im Schulalltag kann also Paradoxien, wie die Stereotypisierung von den Mädchen und den Jungen, entstehen lassen, die den Absichten der Pädagogen und Pädagoginnen zuwiderlaufen.

Da es auch andere Differenzen gibt, mit denen sich Schülerinnen und Schüler identifizieren oder abgrenzen, wie z.B. „doing student“ oder „doing adult“, bei denen Geschlecht Relevanz haben kann, aber nicht muss, fordert Faulstich-Wieland eine Entdramatisierung von Geschlecht

. Damit ließen sich die allgegenwärtige Wahrnehmung der Geschlechterdifferenzen verringern, Stereotype vermeiden und auch Differenzen innerhalb der Geschlechtergruppen sichtbarer machen. Jedoch soll eine Entdramatisierung von Geschlecht keine vermeintliche Geschlechtsneutralität bedeuten, da Geschlechterunterschiede nicht durch eine Dethematisierung aufgehoben werden können. Vielmehr sollte pädagogisches Handeln immer auf Selbstreflexionen des eigenen doing gender auf der Basis von Genderkompetenz beruhen. Wünschenswert wäre also eine Balance zwischen einer Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht. Konkret hieße das ein pädagogischer Umgang mit Jungen, der keine Remaskularisierung provoziert, sowie ein Umgang mit Mädchen, der auf Protektionismus verzichtet.

 

Im Anschluss an den Vortrag schloss sich eine rege Diskussion über einen spielerischen Umgang zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung, sowie Fragen nach konkreten Maßnahmen an. Festgehalten wurde, dass es im Schulalltag um eine Individualisierungsstärkung gehen sollte, ohne das Kästchen Geschlecht aufzumachen, sowie Gender als Pluralisierungsansatz zu verstehen ist.

 

 

 

Zur Vortragenden:

 

Hannelore Faulstich-Wieland ist Professorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtung der Schulpädagogik, Schwerpunkt schulische Sozialisation an der Universität Hamburg, am Institut für Schulpädagogik und Pädagogische Psychologie. Darüber hinaus ist sie u.a. Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des DJI und Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats für das hochschulübergreifenden Kompetenzzentrum für Geschlechterforschung und Bildungsfragen in der Informationsgesellschaft des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. Weiterhin ist sie auch als Fachkollegiatin der DFG für Sozialisation-, Institutions- und Professionsforschung tätig.

 

Veröffentlichungen:

 

Faulstich-Wieland, Hannelore: Geschlechteraspekte in der Bildung, Expertise für die Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin, 2003

 

Faulstich-Wieland, Hannelore: Mädchen und Naturwissenschaften in der Schule, Expertise für das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Hamburg, 2004

 

Faulstich-Wieland, Hannelore/ Weber, Martina/ Willems, Katharina: Doing Gender im heutigen Schulalltag, Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen, Weinheim, 2004

 

Faulstich-Wieland, Hannelore: Einführung in Genderstudien, Opladen, 2003

 

Faulstich-Wieland, Hannelore: Sozialisation in Schule und Unterricht, Neuwied, 2002

 

Faulstich-Wieland, Hannelore: Individuum und Gesellschaft, Sozialisationstheorien und Sozialisationsforschung, München, 2000

 

 

 

Hier können Sie das Manuskript dieser Gender Lecture

herunterladen.

 

 


erstellt von Administrator zuletzt verändert: 05.08.2010 17:26