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"Modernisierung von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen - Hartz I, II, III, IV und wie weiter?"

Gender Lecture mit Prof. Dr. Ingrid Kurz-Scherf: 

Am 7. November 2005 drängten sich viele Interessierte in den Konferenzsaal 2103 der Humboldt-Universität, um die Gender Lecture der Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Ingrid Kurz-Scherf zur Modernisierung von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen zu hören. Kurz-Scherf bilanzierte in ihrem Vortrag die mit dem Namen Hartz verbundenen Arbeitsmarktreformen und kritisierte sie aus geschlechterpolitischer Perspektive. Sie warf die Frage auf, ob von einer Modernisierung von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen die Rede sein kann, oder ob sich die Benachteiligung von Frauen und Privilegierung von Männern auf dem Arbeitsmarkt fortschreibe. Schließlich skizzierte Kurz-Scherf einige Thesen zur Perspektive feministischer Arbeitspolitik.


Zu Anfang rief Kurz-Scherf die Zielsetzung des Hartz-Konzeptes ins Gedächtnis: Mit Hilfe der Doppelstrategie, die Zugänge in Arbeitslosigkeit und die Dauer der Arbeitslosigkeit zu verringern, sollte in zwei bis drei Jahren eine Halbierung der Arbeitslosenzahlen erreicht werden. In anderen EU-Ländern sei eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit durchaus erfolgt, auch wenn dies oft nur durch die Umlenkung von Arbeitslosigkeit in prekäre Beschäftigung gelungen sei. Somit sei das grundsätzliche Ziel, die Arbeitslosigkeit zu senken, durchaus zu realisieren, problematisch sei allenfalls die kurze Zeitdauer, die hierfür veranschlagt worden sei.
Im Rückblick auf die Gesetze Hartz I, II, III und IV bewertete Kurz-Scherf die einzelnen Maßnahmen als ambivalent, diagnostizierte jedoch eine technokratische Grundorientierung, die sich in einem "Instrumentenfieber" niederschlage.
Unter der Perspektive des Gender Mainstreaming hob Kurz-Scherf verschiedene Aspekte des Hartz-Paketes heraus:
  • Das Vermittlungsprivileg für Familienväter, das im ersten Entwurf des Berichts der Hartz-Kommission noch explizit enthalten gewesen sei, sei zwar nicht mehr vorhanden, ob es jedoch nicht faktisch weiterexistiere, müsse untersucht werden.
  • Die Forderung der Hartz-Kommission nach einem "Recht auf einfache Arbeit" werde begründet mit einer großen Anzahl von Personen, die nicht qualifikationswillig und qualifikationsfähig seien – gemeint seien damit besonders Frauen. So könne "einfache Arbeit" u.a. übersetzt werden mit personennaher Arbeit, also z.B. in  Pflege und Betreuung, einem Bereich, der traditionell meist von Frauen geleistet werde. So würde die Abwertung dieses Bereichs reproduziert und Geschlechterstereotype würden verfestigt.
  • Das Konzept der Bedarfsgemeinschaft stärke und reinstalliere die Position des männlichen Haushaltsvorstands.
  • Um die Zahlung des Aussteuerungsbetrags von 10.000 Euro zu vermeiden, den die Bundesagentur für Arbeit bei einem Wechsel vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II an den Bund bezahlen muss, würden Arbeitslose in irgendeine Beschäftigung vermittelt, so dass z.B. Berufsrückkehrerinnen mit häufig größerem Qualifikationsbedarf benachteiligt würden.
  • Die Regelungen für allein Erziehende und zur Kinderbetreuung seien weitgehend positiv herauszustellen.
Der Blick auf die geschlechterpolitische und feministische Diskussion der letzten Jahre zum Hartz-Paket macht deutlich, dass die kritischen und ablehnenden Stimmen insgesamt überwogen. Die Kritik sei meist verbunden gewesen mit allgemeinen sozialpolitischen Bedenken, so z.B. gegen die grundlegende Konzeption, dass gegen Vermittlungsprobleme und "Arbeitsunwilligkeit" angegangen werde, ohne gegen das eigentliche Problem der Arbeitslosigkeit anzugehen und neue, existenzsichernde Berufsperspektiven zu schaffen. Die Orientierung am Prinzip "Hauptsache Arbeit" sei falsch und weise auf autoritäre Tendenzen in der Gesellschaft hin. Dies manifestiere sich besonders in der Sprache der programmatischen Texte und der Ignoranz gegenüber arbeitspolitischen Alternativen, die als unrealistisch abgewertet würden.
In besonderer Weise wirken sich die Maßnahmen jedoch zu ungunsten von Frauen aus.
  • Für berufstätige Frauen gebe es das Risiko eines Substitutionseffekts von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen zu Minijobs und Ich-AGs. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors und geringfügiger, kurzzeitig befristeter Beschäftigung betreffe vornehmlich Frauen.
  • Berufsrückkehrerinnen und Alleinerziehende benötigten mehr Zeit für Qualifizierung und Orientierung, die ihnen nicht mehr gegeben werde. Zudem würden gezielte Maßnahmen in diesem Feld zurückgebaut.
  • Die materielle Lage weiblicher Langzeitarbeitsloser verschlechtere sich, da sie aufgrund der verstärkten Anrechnung von Partnereinkommen ihre Ansprüche verlieren.
Kurz-Scherf stellte die Ergebnisse der Hartz-Gesetze und ihren Anspruch gegenüber. Insgesamt sei von einem "gescheiterten Projekt" zu sprechen. So sei der Zugang in die Arbeitslosigkeit nicht -wie angekündigt- um 25% gesunken, sondern vielmehr um 16% gestiegen. Ebenfalls sei die Dauer der Arbeitslosigkeit nicht wie versprochen um ein Drittel gesunken, sondern habe sich erhöht.
Betrachte man die Zahlen differenziert nach Ost- und Westdeutschland sowie nach Geschlecht, falle beim Vergleich der Dauer der Arbeitslosigkeit zwischen 2001 und 2004 der starke Anstieg im Osten auf, wobei die mit Abstand höchste Anzahl bei Frauen im Osten zu verzeichnen ist.
Bei der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen sei im Osten eine geringe Abnahme zu verzeichnen, die jedoch durch eine wesentlich stärkere Zunahme im Westen aufgehoben wird. Besonders das extrem starke Anwachsen der Arbeitslosenquote unter den Frauen aus dem Westen um 25,6% von Oktober 2004 bis Oktober 2005 gibt Rätsel auf: Handelt es sich um einen "Hartz IV-Effekt", der darin besteht, dass Sozialhilfeberechtigte erst jetzt Sozialleistungen beantragen, da das Arbeitslosengeld nicht so stark wie die Sozialhilfe stigmatisiert ist?
Der Frauenanteil an der Arbeitslosigkeit, der bis 2004 kontinuierlich abgenommen hat, steigt seit März 2005. Auch hier sei die Interpretation nicht eindeutig: Betrifft der Substitutionsprozess mehr Frauenarbeitsplätze, und zwar wesentlich schneller und stärker als erwartet? Oder handelt es sich dabei nur um einen zahlenmäßigen Effekt durch die verzögerte Erfassung von Sozialhilfeempfängerinnen?

In einer zusammenfassenden Bewertung kommentierte Kurz-Scherf die Hartz-Maßnahmen dahingehend, dass in einzelnen Elementen der Reform durchaus innovative Impulse und Gedanken steckten, die "seriös gestaltet" zukunftsweisend sein könnten. Das allgemeine Fazit ließe sich jedoch auf folgenden Nenner bringen: "Wenn's im Ganzen in die falsche Richtung geht, nützt es nichts, wenn die Bank bequem ist, die am Weg steht".

Abschließend präsentierte Kurz-Scherf einige Thesen zu einer feministisch inspirierten Arbeitspolitik. Auch wenn der Begriff der Modernisierung der Arbeits- und Geschlechterpolitik ambivalent sei, sollte er doch nicht aufgegeben werden. So müsse Demokratie als normative Leitidee weiterverfolgt werden. Das Recht auf Arbeit sei zu reformulieren. Wider eine Familialisierung der Arbeitspolitik sei an der Individualisierung von Sicherungsansprüchen festzuhalten. Es gehe im Grundsatz um die Unterscheidung zwischen einer liberalen, egalitären, solidarischen Arbeitspolitik und einer autoritären, elitären und konkurrentischen. Besonders müssten arbeitspolitische Konzepte politisch, also kontrovers, diskutiert und ausgehandelt werden; entgegen der herrschenden Meinung gebe es immer Alternativen. Im Vergleich mit anderen Ländern herrsche in diesen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland ein Defizit an geschlechterpolitischer Einmischung.

Daran anknüpfend entstand eine kontroverse Debatte zwischen den Gästen aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung. Eine wichtige Rolle spielte die Sprache in den Hartz-Reformen: Zwar finde eine Art geschlechterpolitische Modernisierung statt, es wäre aber unklar, ob man sich darauf positiv beziehen sollte. Wären positive Leitbilder wie Solidarität oder Emanzipation nicht sinnvoller, auch um über die Wissenschaft hinaus verständlich zu bleiben? Welche nicht-beabsichtigten Nebeneffekte hat die Reform: Erwerben die Betroffenen nicht im Umgang mit den Regelungen Kompetenzen, aus denen Eigeninitiative entstehen kann?
Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion war die Datenlage: Wie kommt es, dass bestimmte geschlechter-differenzierte Statistiken seit dem Inkrafttreten von Hartz IV nicht mehr erhoben oder veröffentlich werden? Handelt es sich um gezielte Desinformation oder um  technische Umstellungsprobleme?

An diesem Abend war von einem Mangel an geschlechterpolitischer Beschäftigung mit Arbeitsmarktpolitik jedenfalls nichts zu spüren.


Zur Vortragenden:

Ingrid Kurz-Scherf ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Marburg mit dem Schwerpunkt Politik und Geschlechterverhältnis, von 2002-2005 leitete sie das Projekt GendA - Netzwerk feministische Arbeitsforschung.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Arbeits- und Sozialpolitik, Politische Ökonomie, Geschlechterverhältnis und feministische Theorie sowie Demokratie.
Als politisch engagierte Wissenschaftlerin war sie u.a. beteiligt am Aufruf der WissenschaftlerInnen "Sozialstaat reformieren statt abbauen".
Weitere Informationen finden Sie auf ihrer Homepage http://staff-www.uni-marburg.de/~kurzsche

Wichtige Veröffentlichungen:
  • Demokratie und Geschlechterverhältnis, in: Berg-Schlosser, D. / Giegel, H. J. (Hg.), Perspektiven der Demokratie, Frankfurt a. M. 1999.
  • Kooperative Demokratie - Kritik der Arbeit und Arbeitslosigkeit 2005 (im Erscheinen).
  • Arbeitsstudien - Zum Wandel der Arbeit und zur Krise der patriarchalen Kultur, Düsseldorf 1996.
  • Zeit der Vielfalt - Vielfalt der Zeiten. Individuelle und betriebliche Arbeitszeiten und Arbeitszeitpräferenzen in Berlin, Berlin 1995.
  • (zusammen mit Gunnar Winkler) Sozialreport 94 - Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 1994.
  • Arbeit, ein knappes Gut?, in: Zeitschrift für Frauenforschung, 1 und 2/95.
  • Nur noch Utopien sind realistisch - feministische Perspektiven in Deutschland, Köln 1992.
  • (zusammen mit Gisela Breil) Wem gehört die Zeit? Ein Lesebuch zum 6-Stunden-Tag, Hamburg 1987.
Hier können Sie die Präsentation

von Ingrid Kurz-Scherf finden, oder Sie lesen den Artikel, auf dem große Teile des Vortrags basieren, und der soeben erschienen ist:

 

Kurz-Scherf, Ingrid / Lepperhoff, Julia / Scheele, Alexandra: Modernisierung jenseits von Traditionalismus und Neoliberalismus? Die aktuelle Arbeitsmarktpolitik als Ausdruck eines verkürzten Modernisierungskonzepts, in: femina politica

, Heft 02/2005, S. 62-74.

 

Eine Langfassung des Vortrags wird voraussichtlich im Januar an dieser Stelle veröffentlicht.

erstellt von Administrator zuletzt verändert: 05.08.2010 16:27