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"Moderner Staat - die andere Universität?"

Gender Lecture mit Prof. Dr. Ing. Aylâ Neusel: 

Prof. Dr. Ing. Aylâ Neusel

Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung

Universität Kassel

 

Moderner Staat - die andere Universität?

Grenzverschiebungen zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Staat

 

 

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Gender Lecture“ des GenderKompetenzZentrums an der Humboldt Universität zu Berlin hielt die Hochschulforscherin Aylâ Neusel einen Vortrag zu den aktuellen Herausforderungen der Wissenschaftspolitik. Am Beispiel der Internationalen Frauenuniversität „Technik und Kultur“, deren Initiatorin und Präsidentin sie war, stellte sie in ihrem Vortrag das Konzept einer neuen Universität vor, welches sich den Herausforderungen des 21. Jahrhundert annimmt.

 

Seit den 1990er Jahren ist in der Hochschulpolitik und Hochschulforschung vieles in Bewegung geraten. Im Dreieck Wissenschaft - Gesellschaft - Staat finden Re-Arrangements statt. Neusel stellt die Entwicklungen der Hochschule durch eine Umdeutung dieser Triade von Burton Clark (1983) dar. Die Hochschule ist danach ein Subjekt, dessen Akteure ein „moderner Staat“, eine „offene Gesellschaft“ und ein „neues Wissen“ sind. In dieser neuen Universität finden Grenzverschiebungen statt, die der bisherigen Trägheit der Hochschule entgegenwirken (sollen).

 

„Neues Wissen“

ist ein alternatives Konzept der Wissensproduktion, um eine traditionelle Wissenschaft abzulösen, bei der Wissenschaftliches von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern allein generiert wurde. Das Konzept des „neuen Wissens“ entwickelt Neusel in Anlehnung an Helga Nowotny u.a. (1994); demnach entsteht das neue Wissen nicht in den disziplinären Grenzen, sondern es öffnet sich, so dass Wissenschaft auf Grund von Lösungsdruck gesellschaftlicher Probleme stattfindet. In neuen Foren kommen unterschiedliche soziale Gruppen zusammen, so ist die Wissenschaft nicht mehr ausschließlich auf wissenschaftliche Labore begrenzt. In diesem Prozess findet bereits bei der Problemdefinition genauso auch auf der Suche nach den besten Lösungen ein verstärkter Austausch von Innen und Außen statt, die klaren Abgrenzungen zwischen der Praxis und der Wissenserzeugung verschwimmen. Das Kriterium des „neuen Wissens“ ist Nützlichkeit, die nicht im Sinne von Marktkompatibilität verstanden wird, sondern auf soziale Vernetzung und gesellschaftliche Problemlösungen abzielt.

 

Dieses Konzept wurde auch in der ifu angewandt, wobei drei Aspekte im Vordergrund standen:

  • Problembezug und Transdisziplinarität: Die Themenschwerpunkte der ifu beziehen sich nicht auf wissenschaftliche Disziplinen, sondern haben ihren Fokus in realen Problemen, die durch weltweite gesellschaftliche Brisanz und wissenschaftliche Relevanz gekennzeichnet sind und so notwendiger Weise transdisziplinär, unter Einschluss von naturwissenschaftlichem, technischem und medizinischem Wissen, bearbeitet werden mussten. Im Mittelpunkt der Wissensproduktion standen Themen, wie Arbeit, Information, Körper, Migration, Stadt und Wasser.
  • Interkultureller Diskurs und transnationale Wissenschaft: Bei der ifu wurde eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Absicht angestoßen, einen "Dritten Ort" (Homi Bhabha 1994) zu konstituieren, der die Universität zu einer transkulturellen Zwischen-Station macht, für übergreifende Diskurse mit verschiedenen Weltsichten. Es lag in der Absicht, ein transnationales Wissen entstehen zu lassen, ohne die in der Wissenschaft vorrätigen Nord-Süd-Hierarchien. So wurde der nicht-westlichen (und der feministischen) Wissenschaftskritik an der Tradition der „unified science“ ein entsprechend wichtiger Platz eingeräumt.
  • Gender-Wissen: Von Anfang an war das Ziel, so Neusel, die feministische Wissenschafts- und Technikkritik in der Konstruktion von Themen, Projekten und Diskursen der ifu umzusetzen, implizierte die Leitidee der ifu doch, dass alle Krisen und Umwälzungen, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen, sich auf das Geschlechterverhältnis auswirken. Die in den einzelnen Themenfeldern aufgeworfenen Forschungs- und Untersuchungsfragen haben darum einen intensiven Bezug zur Genderforschung in Naturwissenschaft, Technik und Medizin.

 

Die „offene Gesellschaft“

sei heute mehr als die Forderung, „Arbeiterkinder an die Uni!“ zu holen. Es gehe auch um Zugangsmöglichkeiten von Frauen oder anderen historisch Ausgeschlossenen, sei es, dass es sich um eine Marginalisierung aufgrund des Geschlechts, des Alters, der Bildungsaspiration, der sozialen und regionalen Herkunft, der sexuellen Identität, der Religion, der Sprache oder einer Behinderung handele.

 

Die Idee, eine Universität zu gründen, an der ausschließlich Frauen studieren und lehren sollten, so Neusel, resultierte zuerst aus der Erfahrung mit dem deutschen Hochschulsystem, an dem bisher fast alle Versuche weitgehend gescheitert waren einer hochqualifizierten Generation von Wissenschaftlerinnen angemessene Chancen zu eröffnen, in Hochschule und Wissenschaft Verantwortung zu übernehmen.

 

So war die ifu als eine Einrichtung ausschließlich für Frauen gedacht, wurde aber im Prozess ihrer Werdung ein sehr heterogenes Projekt: Sie war zwar in der Summe ihrer Akteurinnen monogeschlechtlich, aber gleichzeitig extrem polykulturell. In diesem Zusammenhang entwickelte sich bei der ifu eine neue Wertschätzung der Vielfalt, des Anderen, des Fremden.

 

Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen greifen Ungleichheitsfragen weiter, es gilt, da auch die deutsche Universität kein homosozialer Ort mehr ist, die Ungleichheitsfrage in einen größeren Kontext zu stellen und positiv zu bewenden. Das Zulassen von Diversität in diesem Sinne ist ein wichtiges Reformelement, so Neusel, denn sie wirkt produktiv in die Bildung und Wissenschaft ein und trägt zur konzeptionellen, institutionellen wie sozialen Modernisierung der Hochschule bei.

 

Der „moderne Staat“

befindet sich im Wandel. Nicht nur in Bezug auf die Hochschulpolitik hat sich in den letzten 30 Jahren das staatliche Selbstverständnis stetig gewandelt.

 

Während in einer ersten Phase in den 1970er Jahren der „politisch-planerische Staat“, der von der „Unfähigkeit der Universität zu Reformen“ ausging, die Hochschulen mit umfangreichen Regelungen überzog, und Input-orientierte Reformen aufstellte, so dass bspw. Chancengleichheit und Durchlässigkeit in der Hochschule zum Ziel gemacht wurden, führten die Erfahrungen mit den enttäuschenden Ergebnissen dieser in den 1990er Jahren zu einer Abkehr vom planenden Staat. Die Hochschule sollte mehr „Autonomie“ erlangen. Vom „schlanken Staat“ war die Rede. Nun ging es eher um Output-orientierte Ziele, bei denen am Ende nach der Qualität der Lehre und Forschung, dem Erfolg und den Leistungen im Studium, nach dem gesellschaftlichen Nutzen der Hochschulen gefragt wurde. Die ordnungspolitischen Maßnahmen der 1970er Jahre wurden durch die finanzpolitischen Instrumente der 1990er abgelöst.

 

In unserer Zeit gibt es Anzeichen für einen weiderholten Wechsel, diesmal von der ökonomisch begründeten zu einer politischen Steuerungspolitik, also einer Abkehr von einer Politik des „New Public Management“ hin zu „New Public Governance“. Die neue Politik zeichnet sich durch die Zurücknahmen des Staates in seinen Aktivitäten aus. Die „weichen“ Steuerungssysteme des „aktivierenden Staates“ basieren verstärkt auf Akteursorientierung und Feedbacksystemen, sollen an zivilgesellschaftliche Ideen erinnern und reagieren auf eine Internationalisierung und Europäisierung der Hochschulentwicklung.

 

 

Im Anschluss an den Vortrag wurden Risiken des Steuerungswandels diskutiert, sowie Vor- und Nachteile der Internationalisierung der Hochschulsysteme besprochen. Weiterhin wurde konstatiert, dass das Konzept der ifu in Bezug auf eine Gender-Analyse ein Best-Practice Beispiel für Gender Mainstreaming darstellt, da es insbesondere den Anspruch einer Interkulturalität, Enthierarchisierung und Gender-Perspektive verfolgt.

 

 

 

Zur Vortragenden:

 

Dr.-Ing. Aylâ Neusel ist Professorin i.R. für Hochschulforschung am Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Universität Kassel. Seit den neunziger Jahren initiierte sie vielfältige hochschul- und frauenpolitische Aktivitäten und entwickelte zahlreiche Reformmaßnahmen. Von 1999-2003 war sie Präsidentin der Internationalen Frauenuniversität „Technik und Kultur“ (ifu) und wurde 2002 vom Internationalen Hochschulkonsortium mit dem Aufbau des Women’s Institute of Technology, Development, and Culture (W.I.T.) beauftragt.

Sie erhielt in 2000 für herausragende Leistungen in der internationalen Hochschulzusammenarbeit den Sonderpreis der Hochschulrektorenkonferenz und in 2001 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse für langjähriges wissenschaftliches, frauenpolitisches und gewerkschaftliches Engagement.

Es liegen zahlreiche Publikationen zu ihren Forschungsschwerpunkten vor, wie z.B.

Neusel, Aylâ und Poppenhusen, Margot (Hg.): Universität Neu Denken, Die Internationale Frauenuniversität „Technik und Kultur“, Opladen 2002

 

 

Weitere Informationen auch unter: www.vifu.de

 

 

 

erstellt von Administrator zuletzt verändert: 05.08.2010 13:36