Sie sind hier: Startseite Veranstaltungs-, Publikations- und News Archiv Gender Lectures Intersexualität

Intersexualität

Gender Lecture mit Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt:

 

Am 19.01.04 ging es in den Gender Lectures an der Humboldt Universität zu Berlin um "Männliche Frauen - weibliche Männer". Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Sexualforschung und forensische Psychiatrie) informierte über aktuelle Forschungsergebnisse zur Intersexualität.

 

 

Worum geht es? Geschlecht wird unterteilt in das biologische Geschlecht (sex) und das psychosoziale Geschlecht (gender). Ein Aspekt des psychosozialen Geschlechtes ist die Geschlechtsidentität, d.h. das Verhalten, Erleben und Begehren von Männern und von Frauen. Weitere Elemente sind geschlechterdifferenzierendes und geschlechtstypisches Verhalten, Geschlechtsrolle, sexuelle Orientierung und sexuelle Identität.

Die Geschlechtsidentität ist nur ein Aspekt der Identität unter anderen wie z.B. ethnische, nationale, berufliche, verwandtschaftliche oder auch krankheitsbezogene Identitäten. Manche dieser Identitäten können gewechselt werden, andere nicht. Der Wechsel zwischen Identitäten werden dabei sehr unterschiedlich bewertet. Wer sein oder ihr Geschlecht wechseln will, hat meist mit heftigen gesellschaftlichen Reaktionen zu rechnen. Die Geschlechtsidentität wird eben nicht nur durch Selbstkategorisierungen und –wahrnehmungen, sondern auch durch Fremdkategorisierungen und -wahrnehmungen gebildet. Dabei sind – aus der Sicht von Richter-Appelt - vier Aspekte zentral:
  • Die Geschlechtszuweisung nach der Geburt.
  • Körperliche Prädispositionen und Entwicklungen (v.a. Körpergefühl).
  • Elterliche und gesellschaftliche Einstellungen.
  • Interaktionen.

Intersexualität ist eine denkbare Irritation der Geschlechtsidentität. Sie wird hier definiert als „eine somatosexuelle Differenzierungsstörung in der Entwicklung von den Chromosomen zum Phänotyp“. Weitere Irritationen des Geschlechts können Transsexualität (oder Transgender) sein, wo Geschlechtsidentität und biologisches Geschlecht nicht überein stimmen. Manche sehen auch Homosexualität als Gender-Irritation an.

Deutsches Recht reagiert ebenfalls auf Irritationen, insbesondere auf Transsexualität. Im deutschen Transsexuellengesetz wird auf Geschlechtsorgane Bezug genommen. Die Forschung zeigt jedoch, dass auch das biologische Geschlecht auf weit mehr Ebenen zu finden ist. Es wirken Chromosomen, Gonaden (Keimdrüsen), die pränatale Sexualhormonwirkung, Reproduktionsorgane, externe Genitalien, Gehirn, Pubertäts- und adulte Sexualhormonwirkung, sekundäre Geschlechtsmerkmale und Körperbau.

Auch Intersexualität ist kein einheitliches Phänomen. So können Menschen mit weiblichen Geschlechtsorganen z.B. einen XX-Chromosomensatz und weibliche Fortpflanzungsorgane haben oder Menschen mit männlichen Geschlechtsteilen einem XY-Chromosomensatz und männliche Fortpflanzungsorganen. Auch haben nicht alle Menschen eindeutige Genitalien. Eine wichtige Rolle spielen hier die Sexualhormone. So wird das vermutete Geschlecht oftmals erst in der Pubertät durch Testosteron als „Irrtum“ enthüllt, also konterkariert.

 

Traditionelle medizinische oder psychologische Reaktionen und Behandlungen für Intersexuelle gehen von einem strikten Modell aus, anstatt diese Differenzierungen zu berücksichtigen. So sehen die Behandlungsrichtlinien bei nichteindeutigem Genital nach Money von 1955 folgendes vor:
  • frühzeitige Geschlechtszuweisung;
  • operative Angleichung (z.B. Scheidenplastik, Klitorisdektomie);
  • Geheimhaltung.

Diesen Behandlungsrichtlinien liegt eine Vorstellung von Normalität zugrunde, die ein „unauffälliges Aussehen der Genitalien“ verlangt. Das Geschlecht wird jedoch nicht nur durch die Genitalien, sondern durch viele biologische und psychosoziale Komponenten bestimmt. Folglich kann eine solche Normalitätsanforderung erhebliche und zu vermeidende Probleme erzeugen.

 

Richter-Appelt plädierte dafür, geschlechtskorrigierende Maßnahmen nur im medizinischen Notfall in Betracht zu ziehen. Ein nicht eindeutiges Geschlecht ist kein zwingender Grund für eine als störend erlebte Geschlechtsidentität. So empfinden sich Personen mit in der Pubertät wechselnder Geschlechtsidentität in den ersten Lebensjahren oftmals als androgyn, später „switchen“ sie häufiger, wechseln also, können aber – unter bestimmten, nicht zuletzt aufgeklärten Bedingungen – gut damit leben.

In der Behandlung von Geschlechtsirritationen ist auch der "informed consent", also die informierte Zustimmung der Betroffenen zu Verfahren und Maßnahmen wichtig. Eltern können ihre Zustimmung zu einer Behandlung von Kindern geben, doch lässt sich oft auch eine eigene Entscheidung der dann Erwachsenen abwarten. Notwendig ist eine umfassende Information über Nebenwirkungen und Spätfolgen, die dem Stand der Wissenschaft entspricht und z.B. auch kritische Ansichten berücksichtigt.

Weiter ist Wissen um die Varianz von Geschlecht für unseren Umgang mit Sexualität – oder: miteinander – wichtig. Mittlerweile ist selbstverständlicher geworden, dass Sexualverkehr auch ohne Vagina möglich ist oder das ein Penis keine Mindestgröße braucht. Je akzeptierter dies ist, desto seltener wird „umdefiniert“ und zunehmend nicht mehr operiert. Oft wehren sich z.B. Mütter gegen eine Scheidenplastik bei ihren Kindern, aber Klitorisdektomien (Teilamputationen) werden noch häufig durchgeführt. Behandlungsziele sind allerdings im Wandel. Es geht heute nicht mehr in erster Linie um „Ästhetik“, sondern um Lebensqualität.

 

Zur Vortragenden:

 

Frau Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt ist Professorin am Fachbereich Medizin der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf

, Institut und Poliklinik für Sexualforschung und forensische Psychiatrie.

Im Rahmen der vom DFG geförderten Forschungsgruppe "Vom Gen zur Geschlechtsidentität" leitet Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt derzeit eine Untersuchung zur Bedeutung der Behandlungsmaßnahmen für die Entwicklung der Geschlechtsidentität, des Geschlechtsrollenverhaltens und der krankheitsspezifischen Lebensqualität bei adoleszenten Patientinnen und Patienten mit verschiedenen Formen von Intersexualität.

Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur Psychologischen Diagnostik, zur Psychotherapie, zu verschiedenen Themen der Sexualwissenschaft und zu sexuellen Traumatisierungen.
erstellt von Administrator zuletzt verändert: 05.08.2010 13:52